Sonntag, 2. Dezember, 02:24 Uhr

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„Du ... du kannst dich nicht daran erinnern, wo du warst, als du den Schlag auf den Kopf bekommen hast?"

Die Ungläubigkeit in Liams Stimme stand stellvertretend für meine eigene Verwirrung, nachdem Ellie ihren knappen Bericht über die Geschehnisse aus ihrer Perspektive beendet hatte.

Inklusive der Information, dass sie offenbar nach ihrem unfreiwilligen Blackout keinen Schimmer mehr davon hatte, wann sie sich wo und warum im Gebäude herumgetrieben hatte. Und in diesem Kontext dann natürlich noch weniger davon, um wen es sich bei dem Angreifer gehandelt hatte. Dieser eine Aspekt, der uns alle am brennendsten interessieren würde.

„Und du bist dir sicher, dass du keinen Abstecher zur biologischen Sammlung gemacht hast?", versuchte auch ich es ein weiteres Mal, ein wenig mit meinem schlechten Gewissen kämpfend, dass wir Ellie in ihrem angeschlagenen Zustand so unter Druck setzten, aber ich konnte mich einfach nicht im Zaum halten.

Dafür waren die die Dinge, die sich ereignet hatten, viel zu seltsam. Und besorgniserregend.

„Dein Schal lag auf dem Schreibtisch", hakte ich zögerlich nach. „Ich wollte ihn dir eigentlich mitbringen, aber anscheinend hab ich ihn am Ende vor lauter Entsetzen im Bandraum liegenlassen, als Louis plötzlich unauffindbar war."

Schweigen trat ein.

Ellie hielt ihren Blick weiterhin gesenkt, während ihre Finger unruhig auf dem Plastik der Wasserflasche herumtrommelten, die sie mit beiden Händen umklammert hielt.

Seit wir angekommen waren, hatte sie mich kein einziges Mal richtig angesehen, sondern starr den dunkelblauen Teppichboden zu unseren Füßen fixiert und lediglich Zayn dankend zugenickt, als er ihr eine weitere Flasche hingehalten hatte – woher auch immer er die nahm.

Ich wollte mich gerade resigniert abwenden und versuchen, Verständnis für ihre Schweigsamkeit aufzubringen, als sie endlich ein Seufzen von sich gab.

„Ich weiß es nicht", lautete dann zum wiederholten Male ihre Antwort, ebenso vage und nichtssagend wie auch schon die vier Vorgängerversionen. „Alles weg."

Liam und ich tauschten einen hilflosen, frustrierten Blick und ich war ihm dankbar, als er in einer beruhigenden Geste die Hand auf meinen Oberschenkel legte und leichten Druck ausübte. Wäre er nicht hier, hätte ich mich jetzt vermutlich dem längst überfälligen Nervenzusammenbruch hingeben müssen.

Es war zum Schreien. Wo ich zuvor noch angenommen hatte, dass die Situation nicht noch surrealer werden könnte, hatte ich mich in den vergangenen zehn Minuten eines Besseren belehren lassen müssen.

Als wir von der schmalen Galerie aus in den quadratischen, überschaubaren Raum eingetreten waren, der überwiegend für studentische Gruppenarbeiten vorgesehen war, hatten wir Ellie in mehrere Jacken und Schals eingewickelt auf dem Boden sitzend vorgefunden – in der Ecke des Raumes, die am weitesten von der Tür entfernt war.

Die zusätzlichen Klamotten hatten sie offenbar aus der Fundgrube der Bibliothek stibitzt – etwas wofür man unter normalen Umständen in Teufelsküche kam, doch verständlicherweise hielt sich das schlechte Gewissen ordentlich in Grenzen. Die Umstände waren im Moment immerhin alles andere als normal.

Obwohl es nun doch schon einige Zeit her war, dass die anderen Ellie im Kühlraum gefunden hatten, wiesen ihre Lippen noch immer einen besorgniserweckenden Blaustich auf und ließen sie in Kombination mit den wiederkehrenden, trockenen Hustenanfällen geradezu kläglich wirken.

Von der verklebten Wunde seitlich an ihrem Hinterkopf, die ihre sonst so makellose, naturblonde Haarmähne rötlich verfärbte, und den kalkweisen Wangen, von denen sich die blutunterlaufenen Augen auf groteske Weise abhoben, ganz zu schweigen.

EXIT (Niam, Larry)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt