Sonntag, 2. Dezember, 03:23 Uhr

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Das weitere Durchkämmen der Stockwerke war ergebnislos geblieben, ebenso eine erneute Suche in Cafeteria, Mensa und sogar der Bibliothek. Inzwischen war es knapp halb vier Uhr morgens und der Sturm hatte so weit nachgelassen, dass nur noch vereinzelt das charakteristische Heulen des durchs Dach jagenden Windes zu hören war, dass kein neuer Schnee mehr an die Fensterfronten der Cafeteria geschleudert wurde und dass die Sicht auf den Campus allmählich aufklarte.

Seit wir Colin gefunden hatten, hatte sich nicht mehr viel ereignet, wenn man von ein paar kleineren Streitereien absah. Da uns nun allen Panik und Betroffenheit tief in den Knochen saßen, war niemand erpicht darauf, große Diskussionen zu starten und die Lage noch schlimmer zu machen.

Nicht einmal Ryan.

Harry und Louis blieben unauffindbar, ebenso, wie Romy wie vom Erdboden verschluckt war. Ab und an glaubte ich, an einer Wand oder einem Fenster ein Symbol zu entdecken, das sich zuvor nicht dort befunden hatte, aber letztendlich konnte man sich nicht sicher sein – es waren einfach viel zu viele, um noch groß unterscheiden zu können.

Wie viele Schnitte hatte sie sich selbst zufügen müssen, um genug ... Blut für all diese Zeichnungen zu haben? Ryan hatte dafür selbstverständlich die simple Erklärung parat, dass es sich nicht um ihr eigenes, sondern um das von Colin handelte, denn wie sonst könnte sie so viele Spuren hinterlassen, ohne schon längst umgekippt zu sein?

Und so ungern ich es auch zugab, aber leider ergab diese Erklärung auch in meinem Kopf allmählich Sinn. Zu viel Sinn, für meinen Geschmack.

Trotzdem blieb diese eine Frage offen: Wenn das alles hier tatsächlich ganz gezielt inszeniert worden war, wer hatte dafür gesorgt, dass die elektronische Verriegelung entgegen ihrer üblichen Programmierung alle Schotten dichtmachte?

Und wessen Fähigkeiten waren weitreichend genug, um die Verbindung unserer Smartphones und sogar Notrufe zu blockieren?

Natürlich hatte ich mich in Romy nun schon mehrere Male getäuscht, aber dass sie plötzlich eine begnadete Hackerin sein sollte, erschien mir schon sehr abenteuerlich. Unmöglich konnte sie das alles aus eigenem Antrieb und vor allem allein aufgezogen haben, oder?

Und ... warum? Warum?

All diese Unwissenheit fraß allmählich so an meinen Nerven, dass es sich auf meinen Magen niederzuschlagen begann. Mittlerweile hatte ich mich so an das nie abreißende, bohrende Angstgefühl gewöhnt, dass es sich auf ein unangenehmes Köcheln herabgedimmt hatte – ein Dauerzustand, der meinem Kreislauf wohl irgendwann das Genick brechen würde, sollte sich nicht bald etwas daran ändern.

Und natürlich war da auch noch die Sorge um meine beiden Freunde, die mich fast um den Verstand brachte. Nachdem wir Colin tot aufgefunden hatten, hatte mein Vorstellungsvermögen damit begonnen, mir allerlei Horrorszenarien vorzuspielen, was Louis und Harry zugestoßen sein könnte, warum wir sie nicht gefunden hatten.

Keines dieser Szenarien besaß ein Happy-Ending.

Irgendwann vermied ich es einfach, daran zu denken. Egoistisch, aber die beste Methode, um sich selbst bei Verstand zu halten.

Wir hatten uns dazu entschlossen, wieder den Gruppenraum in der Bibliothek aufzusuchen, wo Zayn und Ellie bereits einen Vorrat an Wasserflaschen und wärmenden Kleidungsstücken gelagert hatten. Diese Sammlung hatten wir mit einigen Sachen aufgestockt, die wir aus der Cafeteria hatten mitgehen lassen, und auch wenn es sich größtenteils um irgendwelche Riegel, klebrige Bonbons oder minimalistische Packungen mit Reiswaffeln oder Lebkuchen handelte, was es besser als nichts.

Gezischte Stimmen brachten mich dazu, den Blick von meinem Smartphone zu lösen, mit dem ich eben zum wiederholten Male vergeblich versucht hatte, einen Notruf abzusetzen. Dabei hatte ich mich bewusst ein Stück aus dem Raum bewegt und mich einige Meter weiter ans Geländer der Galerie gelehnt, um ein wenig Abstand zu den anderen zu gewinnen.

EXIT (Niam, Larry)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt