Teil 22

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„Besser?", fragte sie besorgt, als die Tränen langsam nachließen. Chris nickte und drehte sein Gesicht von ihr fort, er wusste, was sie nicht wusste. Wenn sie ihn nun mit ihren großen Augen ansehen würde, wäre es um ihn geschehen und er hätte ihr alle erzählt. Aber es war nicht seine Aufgabe, nicht sein Recht, den anderen zu erzählen, was er die letzten Jahre Zuhause erfahren hatte.
„Sieh mich an!", forderte sie.
„Sieh mich an!", wiederholte sie langsam, als er ihre Worte nicht befolgte. Sie sah ihn an und er musste sich die Tränen erneut verkneifen.
„Komm mit".
Dann zog sie ihn an seinem Arm hoch und in das Gebäude wieder hinein. Drinnen strich sie langsam über seine zitternden Arme und griff nach seinen eiskalten Händen.
„Soll ich Phillip anrufen?", fragte sie, doch er schüttelte den Kopf. Phillip war bei Franzi und dort sollte er auch bleiben. Es war besser, wenn sie sich nicht auch noch Sorgen machten.
„Es geht wieder", erwiderte er und versuchte krampfhaft, die zitternden Hände zu verstecken. Schlussendlich versenkte er sie in seinen Hosentaschen.
„Willst du darüber reden?", fragte sie behutsam.
Erst schüttelte er den Kopf, dann nickte er. Dann schüttelte er schlussendlich wieder den Kopf.
„Sollen wir wieder hineingehen?"
Er nickte. Und gemeinsam betraten sie wieder das Zimmer.

Seine Mutter war noch immer so aufgelöst wie zuvor, ihr ältester Bruder wanderte mit schnellen Schritten den Raum auf und ab.
„Da seid ihr ja wieder", rief ihre Mutter, als sie sie erblickte. Chris sah genau, dass sie sein verheultes Gesicht zur Kenntnis genommen hatte, auch wenn sie ihre Überraschung gut verstecken konnte. Gemeinsam setzten sie sich auf eines der niedrigen Regale im Raum und Chris sah zu Boden. Dann begann sein Vater langsam zu reden.
„Es tut mir wirklich leid, dass ihr es so erfahrt. Das war so nicht geplant. Ich dachte...ich dachte wirklich, es wäre vorbei". Er setzte erneut zum Reden an, als seine Tochter ihn unterbrach.
„Was wäre vorbei?"
„Der Krebs. Ich hatte gedacht, er wäre besiegt".
„Du...du wusstest davon?! Und du hast es uns nicht gesagt?"
„Nein. Ich dachte, ihr würdet es nie erfahren. Ich wollte einfach nicht, dass ihr euch Sorgen macht".
„Wann?"
„Wann was?", fragte ihr Vater verwirrt.
„Wann hast du es erfahren?"
„Vor genau 8 Jahren", ergriff Chris abwesend das Wort. Alle sahen ihn an.
„Warum weiß er davon?", fragte sein Bruder ihren Vater, während sein Zeigefinger in seine Richtung wies.
„Weil er mich begleitet hat. Er hat mich zu den Chemos gebracht. Er hat mir geholfen".
„Und es war nicht wichtig genug, um es uns zu sagen?!"
„Ich wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht!", versuchte er nochmal, es zu erklären.
„Er dachte, er hätte den Krebs besiegt", warf Chris ein.
„Aber das hast du nicht", flüsterte Chris' Mutter.
„Nein, das hab ich nicht", erwiderte ihr Mann leise.
„Drei Monate", flüsterte jemand.
„Drei Monate. Nur noch drei Monate. Wer soll denn sein Leben in nur drei Monaten leben?!", es war seine Schwester. Sie raufte sich die Haare und kniff die Augen zusammen.
„Warum hast du dich nicht eher gekümmert? Warum bist du nicht zum Arzt gegangen? Es gibt doch sicherlich unzählige Nachuntersuchungen. Endstadium! So weit hätte es nie kommen müssen!", sie war außer sich.
„Es ging mir nicht gut", flüsterte ihr Vater.
„Es ging dir nicht gut! Natürlich ging es dir nicht gut, du hast Krebs. Verdammt nochmal. Aber was glaubst du, wie es uns jetzt geht?! Uns geht es doch auch nicht gut. Und dein Enkel?! Chris wird Vater und du? Du stirbst einfach!", jetzt war sie  nicht mehr sie selbst.
Chris nahm sie in den Arm und versuchte sie zu beruhigen, bevor sie weiter ausrastete und Schaden anrichtete.
„Ich verstehe es auch nicht", warf seine Mutter ihrem Mann leise an den Kopf.
„Und wir können nichts mehr tun. Ich habe dir tausendmal gesagt, dass du zum Arzt musst. Und nun? Du wirst das Kind deines Sohnes nicht kennenlernen, da hat sie ganz recht. Und die Hochzeit? Du wirst nicht sehen können, wie dein Sohn vor den Altar tritt! Hast du mal daran gedacht?", nun wurde auch sie sauer. Das Temperament steckt wohl in der Familie,
Doch nun lagen alle Blicke wieder auf Chris, der seine Schwester in den Armen hielt.
Sprachlos schaute sie auf und blickte ihn mit großen Augen an.
„Hochzeit?"
„Wir sind verlobt", antwortete er nur, bevor er seinen Blick wieder auf den Boden richtete. Doch die Stimmung wurde nur noch schlechter. Denn nun machten auch seine Brüder ihrem Vater Vorwürfe und Chris hielt sich beinahe die Ohren zu. Es machte ihn fertig, seinen Vater so leiden zu sehen.
„Hört auf!", sagte er erst leise, dann wiederholte er seine Worte noch etwas lauter.
„Hört auf ihn anzuschreien. Es hilft doch nicht. Wir können die Situation doch nicht ändern".
„Nimm ihn doch nicht in Schutz, er ist ein erwachsener Mann!"
„Ein erwachsener Mann, der sich nicht wehren kann. Es hilft nicht, wenn wir uns alle anschreien. Wir sind in einem Krankenhaus, verdammt. Überhaupt, es ist ein Wunder, dass noch niemand herkam, so laut, wie ihr schreit. Es geht ihm doch auch nicht gut damit, seht in euch doch mal an!"

Inneres VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt