Es war raus und nun wussten alle Bescheid. Doch welchen Weg sein Vater schon auf sich genommen hatte und welche Hindernisse er zu überwinden hatte, das wussten sie nicht. Nur er, der seinen Vater begleitete, zu den unendlich vielen Terminen, zur Chemo und ihm die Hand drückte, er wusste es. Er hatte den Schmerz gesehen und die Qual, die in seinen Augen immer wieder zu erblicken war. Alle anderen hatten die Augen davor verschlossen, sie hatten es nicht gesehen, wollten es nicht sehen. Mit schmerzerfüllten Augen sah er seinen Vater an und wieder konnte er sehen, was sonst niemand sah. Hoffnung. Die Hoffnung, die er schon vor Jahren tief begraben hatte, kam nun wieder hervor. Dass endlich alles ein Ende nehmen würde. Dass das Leben vorbei wäre.
Chris wusste, dass sein Vater nicht mehr leben wollte. Er hatte sich selbst beinahe umgebracht, kurz bevor er das erste Mal von seinem Krebs hörte. Das war nun 8 Jahre her. Er hatte ihn bekämpfen können und diese schreckliche Krankheit besiegt. Zumindest fast. Und nun? War er zurück und schlimmer als je zuvor.
Seine Schwester begann unter Tränen vor und zurück zu schaukeln, nachdem sie sich auf den Boden sinken gelassen hatte. Sein jüngster Bruder hatte den Raum verlassen, während die anderen zwei ihn anschrieb. Zumindest fühlte es sich so an. Sie hatten die Stimmen nicht erhoben und flüsterten leise, doch jeder Satz war ein Schlag ins Gesicht.
„Chris?!"
„Woher wusstest du es?"
„Was verschweigt ihr uns noch?"
„Rede mit uns!"
„Christian! Verdammt!"
„Papa!"
„Was zur Hölle?!"
„Krebs?!"
„Warum erfahren wir es erst jetzt?!"
Und irgendwann unterbrach ihr Vater die Stimmen endlich.
„Haltet die Klappe!", rief er aufgebracht durch den Raum.
„Redet mit mir, wenn ihr Fragen habt und lasst euren Bruder in Frieden!"
„Wir sollen ihn in Frieden lassen? Ihr habt es uns verschwiegen! Er hat es uns verschwiegen! Warum weiß er Bescheid und wir haben keine Ahnung?!"
„Beruhigt euch erstmal!", entgegnete ihr Vater wieder.
„Beruhigen?!", rief sein Bruder wieder.
„Wir sollen uns beruhigen!", flüsterte er wütend in den Raum hinein und wand sich ab. Chris hielt es nicht länger aus und verließ überstürzt den Raum.
„Chris! Christian! Warte! Bitte!", rief ihm seine Schwester verzweifelt hinterher, doch er blieb nicht stehen. Wütend lief er den Flur hinunter und stieß die Tür zur Dachterrasse auf. Sie stürzte ihm hinterher und sah, wie er sich langsam auf den Boden sinken ließ. Dann begann er zu weinen.
„Chris! Um Gottes Willen!"
Sie stürzte zu ihm und kniete sich vor sein Gesicht. Mit ihren kleinen Händen befreite sie sein schmerzverzerrtes Gesicht aus seinen Händen und nahm ihn in den Arm. Immer mehr fing sein Körper an zu zittern und er ließ den Tränen freien Lauf. Sie zog sein Gesicht hervor und sah ihm in die Augen.
„Es ist okay", sagte sie. Und plötzlich war er nicht mehr erwachsen. Plötzlich war er wieder der siebzehnjährige Junge, der seinen Vater mit einer anderen Frau erwischte. Und seine Schwester hatte ihn getröstet. Sie wusste von nichts. Er hatte es nie erzählt. Aber sie hatte ihn beruhigt. Und plötzlich fühlte er sich wieder so geborgen wie vor 10 Jahren, nachdem er den Boden unter den Füßen verloren hatte.
„Alles wird gut", flüsterte sie wieder und langsam beruhigte er sich.
„Niemals. Es wird niemals wieder gut", flüsterte er zurück.
„Doch, das wird es!"
Sie schien so überzeugt von ihren Worten, doch er konnte nicht daran glauben. Er hatte es gesehen. Den Wunsch seines Vaters, endlich zu sterben. Die Verzweiflung, die Sehnsucht nach dem Tod. Und er wusste, er wusste, dass sein Vater nicht einfach so sterben wollte. Es war eine Art Heimweh. Nicht nach einem Ort. Nach einem Menschen. Der nicht einmal existieren sollte. Heimweh nach seiner Tochter. Die Tochter, von der niemand wusste. Von der niemand wissen sollte. Doch Chris wusste es.