Teil 4

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4 Wochen.
4 VERDAMMTE WOCHEN hatte er seine Freunde nicht mehr zu Gesicht bekommen. Linda war die einzige, die von der Beziehung erfahren hatte. Sie war die einzige, die ihn verstand. Oder es zumindest versuchte. Täglich tauchte sie hier auf. Umarmte ihn. Sprach zu ihm und versuchte ihn endlich von seinem Sofa zu lösen. Alle anderen dachten, er sei krank. Irgendetwas richtig fieses. Was genau Linda für ein Lügennetz um ihn gesponnen hatte, keine Ahnung. Er hatte ihr nicht zugehört. Nur das kalte Glas in seiner Hand holte ihn immer wieder in die Wirklichkeit. Die Eiswürfel klirrten gegen den Rand seines Whiskyglases, es war ein beruhigendes Geräusch. Sonst trank er nie. Aber jetzt... Er konnte nicht anders. Wollte dich betäuben. Seine ganzen Gedanken ausblenden. Phillip vergessen, auch nur für einen Moment.
Sein damaliger bester Freund war an seiner Tür aufgetaucht, hatte geklopft und geklingelt, doch Chris hatte all das ignoriert. Bis es schlussendlich aufhörte. Immer weniger Leute kamen vorbei, immer weniger Menschen hatte er zu ignorieren. Die Stille um ihn herum war ein Segen.

Die ersten Tage. Er wusste nicht mehr alles, es war so verschwommen in seinem Kopf. Er hatte nur geweint, das wusste er. Und Linda war da gewesen. Immer. Erst hatte er sie verflucht, wollte alleine sein und stieß sie mit all seiner Kraft von sich. Doch sie war ein Dickkopf. Sie blieb. Und dafür liebte er seine beste Freundin nur noch mehr. Wieder stand sie vor ihm, stellte zum wiederholten Male die Flasche Whisky auf den Schrank. Sie wusste, er würde sie sich wiederholen. Aber es war immerhin ein wenig Bewegung. Sie sagte irgendwas, drehte ihren Kopf hin und her und fuchtelte mit den Händen, sodass ihm schlecht wurde. Der Alkohol beruhigte ihn und er spürte seinen Körper kaum noch.
„..bei Phillip gewesen", sagte sie gerade. Aus den Augenwinkeln schielte er sie an. Was hatte sie gesagt?
„Und dann...", redete sie weiter. Wahrscheinlich glaubte sie, er würde sowieso nicht zuhören.
„Sssstoop, ssstooop, ssstopp. Wassss haft du 'rade jesat?", versuchte er sich zu artikulieren. Linda drehte sich erstaunt zu ihm um.
„Was sagtest du gerade?"
„Isch habö jefrat, wasch du sagt haft". Er selbst merkte, dass das völlig idiotisch klang.
„Wasschssser. Bidä", murmelte er.
„Wasser?", fragte sie nach. Er nickte. Die Minuten vergingen und es dauerte, bis sein Kopf endlich aufhörte sich zu drehen. Den letzten Rest Wasser kippte er sich ins Gesicht. Reste liefen in seine unordentlichen, noch leicht rosafarbenen Haare.
„Du haschht was gesagt. Mit Phillip. Kannscht du das wiederholäään?", fragte er noch einmal.
„Achso. Natürlich. Phillip hatte mich gestern Abend versucht zu erreichen, aber ich hab seinen Anruf verpasst. Also bin ich hingefahren, nachdem du endlich geschlafen hast. Er hat nach dir gefragt, aber ich habe ihm klar gemacht, dass er mit dir selbst reden soll. Falls du es zulässt. Er sagte, er...", sie unterbrach sich selbst, „er sagte, er würde dich lieben. Und er ist nicht mit Franzi zusammen. Das hat er ausdrücklich gesagt. Zwischen den beiden läuft gar nichts".
„Daaa läuffft nicht jarnix. Sie ist schwanger!", schrie er schon fast.
„Jetzt beruhige dich doch erst einmal. Die Schwangerschaft war doch nicht so geplant. Und er will Franzi von euch erzählen. Sie sollte wissen, woran sie ist. Findest du nicht auch?", fragte sie ihn mitfühlend.
„Jaaa", stimmte er ihr zu.
„Na also. Vielleicht solltet ihr mal mit einander reden. Deine Freunde machen sich Sorgen um dich. Ich mache mir Sorgen um dich. Franzi macht sich Sorgen und das sollte sie jetzt definitiv nicht. Sie muss sich schließlich auch schonen. Rede mit Phillip. Bitte. Oder rede mit Franzi. Sie wird dir auch helfen können. Aber rede mit irgendwem. Dafür sind Freunde schließlich da". Sie schloss ihren Mund und sah ihn erwartungsvoll an. Er schüttelte den Kopf, dann nickte er. Chris machte sich daran, aufzustehen. Wankend lief er in den Flur und streifte sich mit Mühe einen Jackenärmel über.
„Was hast du vor?", fragte Linda, mit den Händen in den Hüften hinter ihm stehend.
„Isch gehä jesssst zu Phillip", antwortete er, doch sie schüttelte den Kopf.
„Definitiv nicht. Schon gar nicht so. Du wirst schön hierbleiben, bist du nüchtern bist. Hast Glück, dass noch früh morgens ist und du noch nicht Liter gekippt hast. Wir wollen morgen Abend Essen gehen, du kannst mitkommen. Wenn es dir dann besser geht", fügte sie noch hinzu. Er nickte und ließ sich wieder auf sein Sofa fallen. Und das erste Mal seit vier Wochen blieb die Whiskyflasche auf dem Schrank stehen.

20 Stunden später starrte Christian auf seinen Wecker. Halb sechs. Wer in Gottes Namen hatte diese Uhrzeit erfunden? Das war doch völlig überflüssig. Mit etwas zu viel Elan setzte er sich gerade im Bett auf, nur um Sekunden danach wieder zurück zu sinken. Hämmernde Kopfschmerzen schwächten ihn. Doch er raffte sich auf. Schließlich musste er wieder in sein Leben finden. Er musste ja irgendwann auch wieder anfangen zu arbeiten. Seine Streams! Die hatte er die letzten Wochen ja total vergessen. Hoffentlich hatte Linda sich darum gekümmert. Sie kannte schließlich alle seine Passwörter und Zugänge, zumindest wusste sie, wo er sie aufgeschrieben hatte. Er tapste in die Küche und hinterließ mit seinen nackten Füßen Abdrücke auf seinem Boden. Das Glas Wasser half einen kurzen Augenblick gegen die Schmerzen, jedoch kehrten sie schlagartig zurück. Also griff er nach dem kleinen Körbchen im Schrank über ihm und fischte nach einer Ibuprofen. Es dauerte ewig, doch diese unerträglichen Kopfschmerzen ließen langsam nach. Endlich konnte er wieder klar sehen. Seine Boxershorts wechselte er in seinem Schlafzimmer und griff gleichzeitig nach Jeans und Pullover. Da fiel ihm etwas entgegen. Wie hatte er das nur vergessen können?! Mit Tränen in den Augen starrte er auf den Gegenstand in seiner Hand.

Inneres VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt