Niall
Ich zog beide Augenbrauen nach oben und drückte entnervt auf die Taste, die meinen Wecker schließlich zum Schweigen bringen sollte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass das hier eine wirklich unchristliche Zeit war, um jemanden zu wecken. Aber hatte ich eine Wahl? Nicht wirklich, nein.
Allerdings hatte ich mir den Wecker etwas früher gestellt, um Liam antworten zu können, falls er denn überhaupt eine Antwort hinterlassen hatten. Als ich mir meinen Laptop auf den Schoß zog und mich fragte, was zur Hölle ganz London um diese Zeit eigentlich auf Tumblr suchte, fuhr ich mir vorsichtig mit beiden Händen über das verschlafene Gesicht und warf einen Blick auf meinen Posteingang.
Jede Menge Mails von Leuten, die ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Menschen, die mir sagten, dass mein Blog toll war, dass er ihnen half, und dass ich unglaublich war. Jedes Mal seufzte ich und sagte mir insgeheim selbst, dass sie mich niemals für toll oder unglaublich halten würden, hätten sie mich jemals wirklich kennen gelernt. Ich war weder toll, noch war ich in irgendeiner Art und Weise unglaublich, und schon gar nicht im wahren Leben. Würden sie jemals sehen, wie ich lebe, wie ich mein Geld verdiene, oder wie ich alles über die Runden brachte, würden sie ihre Meinung ganz schnell ändern.
Der Meinung war ich auch bei Liam, auch wenn ich keine Antwort von ihm in meinem Posteingang finden konnte. Eigentlich war ich mir mehr als nur sicher, dass er eigentlich nichts mehr mit mir würde zu tun haben wollen, sollte er jemals dahinter kommen, wie mein Leben eigentlich aussah. Nicht gerade rosig, schoss es mir durch den Kopf, aber es könnte schlimmer sein. Wirklich? Und wie würde schlimmer in diesem Fall aussehen?
Ich klappte meinen Laptop zu und quälte mich aus der warmen Decke, die mich in den letzten Stunden ebenfalls warm gehalten hatte. Ich stolperte ins Badezimmer, rieb mir den letzten Schlaf aus den Augen und warf einen Blick in den Spiegel, dessen Ecken abgebrochen, und dessen Fläche schon den ein oder anderen Riss hatte.
Wobei Riss eine wirklich unverschämte Untertreibung war. Die linke Seite des Spiegels war komplett zersplittert, aber für einen neuen hatte ich kein Geld. Deshalb ließ ich ihn einfach dort hängen und gab vor, nichts von all dem zu merken - und wenn, dass es mich nicht störte.
Aber das tat es, ganz gewaltig sogar. Jedes Mal, wenn ich meine spärlich bestückte Wohnung betrachtete und mich darin umsah, wurde ich wütend und traurig zugleich. Am liebsten würde ich all das, was noch nicht kaputt war, ebenfalls irgendwie gegen eine Wand werfen oder Ähnliches damit anstellen.
Diese Wut in mir war nicht immer da. Nur manchmal, schlich sie sich klammheimlich zwischen meine Gedanken und breitete sich langsam aus. So langsam, dass ich sie gar nicht kommen sah. Und meistens richtete ich sie dann gegen mich selbst.
Ich biss beide Zähne zusammen. Nein, heute nicht. Ich würde stark bleiben, genau so, wie ich es in den letzten Monaten getan hatte. Ich würde jetzt einfach zur Arbeit gehen und mein Geld verdienen, genau so, wie ich es sonst auch tat. Die Dawsons mussten schließlich auch zur Arbeit.
Ich zog meine Ärmel weit über die Handgelenke hinaus, sodass sie auch nichts davon sehen würden. Ich kannte die Dawsons nicht besonders gut, das Einzige, was ich über sie wusste war, dass sie abgehobene, reiche Menschen waren, die in dem Londoner Stadtteil Greenwich zu Hause waren und ein Haus dort gebaut hatten. Allein das zeigte doch, wie schrecklich wohlhabend sie waren. Sie mussten dafür nämlich noch nicht einmal einen Kredit aufnehmen. Ihre beiden Kinder begannen schon jetzt, sich genauso zu verhalten, wie ihre Eltern.
Das Gefühl, sie würden mich sofort rausschmeißen, würden sie jemals von meinem dunklen Geheimnis erfahren, ließ mich nicht los. Und vielleicht sollte es das auch nicht, denn wenn ich unvorsichtig wurde, war ich meinen Job schneller los, als ich dachte.
Als ich das Haus verließ, war es erst fünf Uhr morgens. Über London hatte sich ein leichter Nebel gelegt, der von der Sonne eine goldene Farbe bekam. Eigentlich wäre es wunderschön, wenn es nur nicht so kalt wäre, schoss es mir durch den Kopf, während ich beide Hände tief in den Taschen meines Mantels vergrub.
Die nächste U-Bahn Station war nicht weit von meinem Wohnblock entfernt. Bis nach Greenwich brauchte ich nicht unbedingt lange, wenn man bedachte, dass der gewöhnliche Berufsverkehr um diese Zeit noch tief schlief.
Vereinzelte Männer in Anzügen saßen allerdings immer mit mir in der U-Bahn. Man mochte denken, dass kein normaler Mensch um diese Zeit freiwillig in einem Zug saß - und vielleicht saßen wir alle auch nicht freiwillig dort, aber wir alle hatten eine Sache gemeinsam: Wir alle wussten, dass wir rechtzeitig an unser Ziel mussten und hatten uns daher rechtzeitig auf den Weg gemacht. Ein tiefes Seufzen drängte sich aus meiner Brust. Neben Männern in Anzügen kam ich mir immer so schrecklich ungebildet vor, dabei war ich das eigentlich gar nicht.
Sie gingen einer richtigen Tätigkeit nach, und ich? Ich passte auf zwei kleine Kinder auf und arbeitete bis drei Uhr morgens in einer nach Bier und Zigaretten stinkenden Bar. Ein weiteres Seufzen verließ meine Brust. Oft bemerkte ich es gar nicht.
Manchmal saßen mir auch betrunkene Jugendliche gegenüber, die eine durchfeierte Nacht hinter sich hatten. Wirklich bemerken taten diese zwar nichts mehr, aber glücklicherweise hatte sich noch keiner von ihnen in meiner Gegenwart übergeben. Wenigstens ein kleiner Glücksfall.
Ich stieg in Greenwich wieder aus und machte mich sofort auf den Weg zu den Dawsons. Von der letzten U-Bahn Station aus, war es auch gar nicht mehr so weit. Zumindest nicht, wenn man geübt darin war, zu Fuß zu gehen. Und das war ich wirklich.
Ich wollte nicht sagen, dass ich nie in Versuchung geriet, etwas mitgehen zu lassen. Das wäre gelogen. Aber was ich aufrichtig sagen konnte war, dass ich es noch nie getan hatte. Nur fand ich es schrecklich unfair, dass Glück auf dieser Welt so ungerecht verteilt war. Diese Menschen hatten so viel, und manch andere so wenig. Sie würden die teure Uhr im Wandschrank doch gar nicht vermissen, und die ganzen Scheine, die ich für sie verwaltete, auch nicht.
Ich stieß ein tiefes Seufzen aus und wartete darauf, dass sie wieder von der Arbeit nach Hause kamen.
Das Ende des Monats war noch weit entfernt, und doch hatte ich keinen einzigen Penny mehr. Wieder ein melancholisches Seufzen. Man hatte mir oft gesagt, dass mein Wesen sehr anstrengend sei, dass ich depressiv wirkte oder oft nicht ansprechbar war. Widersprechen konnte ich nicht, aber bejahen konnte ich diese Aussage auch nicht.
Am Abend stand ich hinter der Theke und sah mich in dem Raum um. Der Junge, der vor ein paar Tagen mit mir gesprochen hatte, war auch wieder da. Dieses Mal allerdings hatte er nicht den Drang danach, allein mit mir zu sprechen.
Die Stunden verstrichen so langsam. Ich hatte keinen Anhaltspunkt, an dem ich mich hätte festhalten können. Ich fühlte mich verloren in der Zeit, die ich hinter der Bar stand und gedankenverloren Getränke ausschenkte. Mir würde übel von dem Geruch nach Zigaretten und Bier, während ich mich selbst nach einer Zigarette sehnte. Aber meine Schachtel war schon seit Tagen leer, und Geld für eine Neue hatte ich nicht.
Das machte mich nervös, meine Hände waren ununterbrochen feucht und ich konnte nicht wirklich still sitzen. Ich konnte mich nicht konzentrieren, was mir vor allem bei der Verwaltung der Finanzen der Dawsons auffiel. Eigentlich sollte mir das zu Denken geben, aber das tat es irgendwie nicht. Am liebsten hätte ich die nächste Zigarette geraucht und so getan, als hätte ich die leichten Entzugserscheinungen nie gespürt.
Es war in etwa drei Uhr morgens, als ich wieder nach Hause kam. Den Geruch der Bar in Kleidung und Haaren, klappte ich meinen mitgenommen aussehenden Laptop auf und öffnete Tumblr. Ich spürte ein Kribbeln in meinen Fingerspitzen, als ich sah, dass Liam geantwortet hatte.
Was die These angeht, ob depressive Menschen Metal hören - ich kann dir nur sagen, dass es vielleicht zum Teil zu ist, aber nicht wirklich verallgemeinert werden kann. Ich habe auch den Verdacht, dass Harry, mein Mitbewohner, depressiv ist - aber Metal hört er nicht. Es gibt genug Beispiele dafür, dass es eigentlich oft der Fall ist, aber es gibt genauso Beispiele die zeigen, dass man es einfach nicht zur Regel machen sollte. Beantwortet das deine Frage?
Ja, ich kenne das Gefühl, das du beschrieben hast. Die Person, die man am meisten liebt, hat alles, wonach man jemals fragen könnte. Und man selbst kann nur davon träumen. Aber weißt du, es gibt viel wichtigere Dinge, als das. Schließlich sind diese Personen nicht umsonst die wichtigsten in unserem Leben.
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Tumblr. (Niam AU)
Hayran KurguNiall und Liam kennen sich eigentlich gar nicht. Der einzige Kontakt besteht vorerst über Tumblr, einer Website, die schon vielen Menschen geholfen hat - für manche aber das genaue Gegenteil bedeutet. Nach einiger Zeit ist ihr Vertrauen so weit gewa...