Kapitel 10

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Jin kam einige Minuten später zurück. Er legte seinen Körper ins Bett und setzte sich dann in seiner transparenten Form neben mich auf die Matratze in meinem Schlafzimmer. Er tat dies, wann immer er konnte, damit er das Nen nicht unnötig verschwendete. Denn immerhin konnte ich ihm meine Aura nicht zusenden.
"Danke nochmals, dass du mir von dem Typ mit der Armbrust erzählt hast. Ich hätte ihn wohl ebenfalls nicht bemerkt." Jin lächelte, kniete einbeinig vor mich hin, die rechte Faust auf seiner Brust und neigte den Kopf.
"Ich werde meinen Meister immer mit meiner ganzen Kraft unterstützen!"
"Ich bin froh, dass ich immer auf dich zählen kann", antwortete ich lächelnd. Der Junge warf sich neben mich auf mein Bett. Von seiner vorherigen Förmlichkeit war nichts mehr zu spüren. Geistesabwesend starrte er an die Decke und streckte, ganz langsam, seine kleine blasse Hand danach aus. Danach liess er sie neben sich fallen.

"Könntest du mit Hisoka eine Beziehung führen?" Seine braunen Augen fixierten meine.
"Wie meinst du das?"
"Naja, so wie mit Ian, nur halt mit Hisoka"
"Wahrscheinlich..."
"Warum bist du mit Ian zusammen?"
"Weil er ein netter Kerl ist und mich immer gut behandelt hat."
"Und wenn es Ian nicht gäbe und dich Hisoka nach einem Date fragen würde?"
"Vielleicht schon. Aber er ist nicht der Typ, der nach Dates fragt."
"Mal angenommen er wäre es?"
"Was versuchst du mir zu entlocken?"

Jin stützte sich auf. Unsicher, ob er das was er dachte auch wirklich sagen durfte, blieb er aber still. Doch ich sah ihm an, das es ihm auf der Zunge brannte.
"Nun spucks schon aus. Ich werde dir schon nicht den Kopf abreissen", neckte ich den Kleinen.
"Hast du Gefühle für ihn?"
"Was!? Nein!", rief ich schockiert. Ob ich es sagte, um Jin davon zu überzeugen oder mich selbst, blieb mir unklar.
"Misaki, ich frage nur, ob du dir eine Beziehung mit ihm vorstellen könntest. Du musst dich vor mir nicht rechtfertigen. Du schuldest niemandem eine ehrliche Antwort. Niemandem ausser dir selbst! Warum hast du das Gefühl dich verteidigen zu müssen?"
"Weil ich...", ich stockte.

Ich hatte es nie jemandem anders erzählt, als Hisoka. Und selbst das letzte Gespräch darüber lag ein Jahr zurück. Warum sollte ich es auch jemandem anvertrauen. Dem einzigen Menschen, den es anging, hatte ich es gesagt. Genau dieser hatte mich damals als erbärmlich abgestempelt. Diese Demütigung werde ich auf keinen Fall nochmals über mich ergehen lassen.
"Misaki, du weisst, dass du mir alles erzählen kannst. Du kannst mir vertrauen..."
"Vertrauen spielt dabei keine Rolle. Ich vertraue dir mein Leben an. Aber das mit Hisoka ist... anders" Hilflos suchte ich nach einem besseren Wort, doch mir fiel keines ein. Jin bemerkte meine Unfähigkeit mich auszudrücken. Ich war ihm sehr dankbar, dass er still blieb und mir Zeit gab, meine Gedanken zu ordnen.
"Das Problem ist genau, dass ich ihm nicht vertrauen kann, wie sehr ich es auch will.  Ich kann mit niemandem zusammen sein, der mir stetig in den Rücken fallen könnte, nur weil er sich gerade danach fühlt!"

"Empfindest du etwas für ihn?"
"Ja", gab ich leise von mir und wandte den Blick ab. Grausam mit mir so über Hisoka zu sprechen nur wenige Minuten nachdem er gegangen war.
"Was denn?"
"Ich liebe ihn, okay!?" Frustriert vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Jin verschwand und kam einen kurzen Moment später durch die Türe. Dann setzte sich der Kleine neben mich. Beruhigend strich er über meine Schultern.
"Ich liebe ihn, aber er mich nicht und glaub mir, unerwiderte Liebe ist etwas vom grausamsten, dass du dir vorstellen kannst."
"Ich glaube nicht, dass du für ihn bedeutungslos bist", erwiderte Jin.
"Ich denke eher, dass er selbst nicht weiss, wie er dir gegenüber auftreten soll, weil er etwas für dich empfindet." Ich schwieg. Solche Märchen konnte ich mir selbst zusammenreimen, wahr würden sie dadurch aber auch nicht werden. Immerhin hatte Hisoka mir klar gesagt, was er von mir und meiner Liebe hält. Ich bin sein Spielzeug und meine Gefühle eine Schwäche, die er ganz genau auszunutzen wusste. Gerade deswegen wollte ich ja den Schlussstrich unter unsere seltsame Beziehung ziehen. Wie sollte ich das bloss Jin beschreiben. Er ahmte zwar menschliche Gefühle nach, aber ob er ihre Tiefe verstand, war mir ungewiss.

"Würdest du es mit ihm versuchen, wenn er dir die Chance dazu gäbe? Ohne an deine jetzige Situation mit Ian zu denken."
"Ja", gab ich missmutig zu. Um dem erbarmungslosen Blick des Grauhaarigen auszuweichen, liess ich mich rücklings auf das weiche Bett fallen und schloss die Augen.
"Dann hast du da ja deine Antwort!"
"Das ist nicht so einfach Kichiro! Du weisst was mit Hisoka vorgefallen ist."
"Aber du liebst ihn!" Seufzend drehte ich meinen Kopf in seine Richtung, wurde aber nur von einem ausdruckslosen Gesicht empfangen.
"Genauso liebe ich Ian" Jins Augen hüpften zwischen meinen hin und her. Als ob er die Wahrheit herausfinden würde, wenn er nur lange genug danach suchte. Doch bevor er einen Kommentar dazu abgeben konnte, sprach ich weiter.
"Mit Ian fühle ich mich emotional verbunden. Er macht sich Sorgen um mich, will wissen wie es mir geht und, ob du es wahrhaben willst oder nicht, er fragt auch oft nach dir. Ian gibt sich die Mühe, die ich mir von Hisoka gewünscht hatte. Aber ich weiss, dass ich das von Hisoka nicht verlangen konnte. Wo ich bei ihm in andauernd um mein Leben bangen muss, kann ich mich bei Ian sicher fühlen. Verstehst du was ich meine?" Jin nickte, schüttelte den Kopf und nickte wieder.
"Hisoka liebt das Spiel. Die Ungewissheit, wie seine Zukunft aussieht, wen er trifft, wen er tötet. Dafür lebt er. Die Unbeständigkeit, die ewige Abwechslung machen ihn zu dem, was er ist: Einem mörderisch gutaussehenden Todesgott. Wenn man es so betrachtet, kann ich von Glück sprechen, mit dem Leben davongekommen zu sein."
"Und trotzdem konntest du ihm nicht wiederstehen." Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Es stimmte was Jin sagte. Ich liebe Ian. Dennoch war ich noch nicht bereit, Hisoka endgültig aus meinem Leben zu verbannen.

"Es war ein Fehler mich mit ihm einzulassen", sagte ich schliesslich.
"Ausserdem will ich, dass du ihn in keinem Wort erwähnst, wenn Ian in der Nähe ist!"
"Hisoka wäre die bessere Wahl"
"Versprich es mir!"
"Misaki, wirklich... Ich kann Ian nicht ausstehen"
"JIN!"
"Ja, Meister. Ich werde mich daran halten." Ich war mir unsicher, ob sich Jin wirklich zu seinem Wort stehen konnte, war aber zu müde um weiter zu diskutieren. Deshalb forderte ich, dass er ging, damit ich schlafen konnte, was er auch tat. Es dauerte aber eine Weile, bis ich mich zur Ruhe begeben konnte. Meine Kopfhörer in den Ohren stellte ich ruhige Musik an, in der ich mich kurze Zeit später verlor. Irgendwann dämmerte ich weg. Bevor ich einschlief, spürte ich Jins Nen neben mir.
"Deine Entscheidung muss nur für dich stimmen Akane. Gute Nacht", flüsterte der Junge und verschwand in den Ring.

Still him... // Hisoka ff HxHWo Geschichten leben. Entdecke jetzt