37. Kapitel

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Am nächsten Morgen meldete ich mich das erste Mal seit langem auf der Arbeit krank. Die Kopfschmerzen waren mit voller Wucht zurück gekommen. Unter anderen Umständen hätte ich ein paar Medikamente genommen und mich hin gequält. Doch jetzt war es mir nicht wichtig genug und was die anderen dachten ziemlich egal.

Was ich nicht bedacht hatte: dadurch war ich mit meinen Gedanken alleine. Nach dem kurzen Hoch gestern, war ich in ein tiefes Loch gefallen. Diese depressive Stimmung machte mir selbst Angst.

Arvid hatte mich mehrfach versucht anzurufen, doch ich wollte nicht mit ihm reden. Nach seinem dritten Versuch, schrieb ich ihm eine Nachricht, dass mit mir alles in Ordnung war und er mich in Ruhe lassen sollte. Wie das bei ihm ankam, war mir egal. Ich konnte mich jetzt nicht mit uns befassen. Gab es überhaupt ein uns?

Stöhnend vergrub ich das Gesicht in meine Hände. Schon wieder hatte ich das Bedürfnis, dass ich mich bei Arvid entschuldigen musste. Und schon wieder konnte ich mich nicht dazu durchringen. Aber da war die andere Stimme. Die sagte, dass er von meiner Schwäche wusste und sie in dem Moment ausgenutzt hatte. Dass ich es selber wollte, verdrängte ich erfolgreich.

Dazu kam, dass ich das Gefühl hatte, als hätte ich Jan gestern betrogen. Da wir getrennt waren und er sich neben unserer Ehe schon anderweitig vergnügt hatte, war das mehr als lächerlich. Trotzdem nagte es an meinem Gewissen und ließ sich nicht abschütteln.

Am liebsten hätte ich etwas kaputt gemacht. Meine Aggression musste abgebaut werden. Doch aufgrund meine Krankmeldung, traute ich mich nicht auf meine Joggingrunde. So blieb ich mit meinen düsteren Gedanken alleine zu Hause.

***

Die nächsten Arbeitstage verliefen ruhig. Die neue Regierung war noch in Koalitionsverhandlungen und regional hatte der Countdown zur neuen Bürgermeisterwahl noch nicht gestartet.

Ich nutzte die Möglichkeit, um etwas Überstunden abzubauen. Mittwoch Nachmittag ging ich auf Einkaufstour. Gegen Frust gab es nichts besseres, als sinnlos Geld zu verprassen.

Ich besorgte mir ein paar neue Outfits und beschloss die Einkaufstour mit einem Latte Macchiato zu beenden. Ich setzte mich im Café auf einen Barhocker mit direkten Blick aus den Fenster und beobachtete die Leute. Das hatte ich schon lange nicht mehr gemacht. Dazu dachte ich mir Geschichten zu den Menschen aus, die ich sah. Warum es wohl die gut angezogene Frau so eilig hatte? Bestimmt hatte sie ein Date und wollte nicht zu spät kommen.

„Auf der Skala von 1 bis 10: wie sehr hat es mein Bruder versaut?", ertönte plötzlich eine Stimme rechst von mir.

Ohne zu fragen ließ sich die Frau, die ein paar Jahre jünger als ich sein müsste, neben mir nieder. Ich musterte sie unsicher. Sie war schlank, aber sportlich, hatte dunkles Haar und grau-blaue Augen, die mich an irgendjemand erinnerten. Da machte es Klick. „Du bist Arvids Schwester", stellte ich fest.

„Der Kandidat hat 100 Punkte" lächelte sie. „Hallo, ich bin Annabelle."

Sie streckte mir ihre Hand hin und ich war so verdattert, dass ich sie nahm „Tamara, freut mich" kam mir automatisch von den Lippen.

„Zurück zum Anfang. Wie sehr hat er es versaut? Ich muss alles wissen, womit ich ihn aufziehen kann."

Ich lachte das erste Mal seit Tagen. Ihre erfrischende Art machte es mir leicht, mich zu entspannen. „Du redest wohl nicht gerne um den heißen Brei herum, oder?"

Sie zuckte mit den Achseln. „Wozu? Da verliert man zu viel Zeit mit unwichtigen Dingen."

Nachdenklich sah ich sie an. Ich hatte mir alle möglichen Szenarien ausgemalt, wie ich reagieren würde, wenn ich Arvid wieder traf. Da war alles dabei gewesen von Schreien über Vorwürfe bis um den Hals fallen. Er hatte mir mehrmals in den letzten Tagen geschrieben, doch ich ignorierte jede seiner Nachrichten. Jetzt neben seiner Schwester zu sitzen, brachte mich aus dem Konzept.

„Du bist ganz anders als er" stellte ich fest.

Sie ließ sich auf meine Ablenkungsmanöver ein. „Er nimmt alles manchmal etwas zu ernst, das ist sein Problem. Aber wenn man ihn näher kennen lernt, dann stellt man fest, dass er ab und zu Humor hat. Wenn auch auf seine eigenwillige Art."

Lauter Fragen schossen mir durch den Kopf. Wie es aussah war Annabelle eher gewillt Antworten zu liefern als ihr Bruder, das musste ich ausnutzen. „Was ist das für eine Gemeinschaft, in der ihr zusammen lebt?" Immer noch hatte ich das Gefühl, überhaupt nichts über Arvid zu wissen.

Betont legere zuckte sie mit den Achseln. Ich beobachtete ihre Reaktion genau und sah, dass sie etwas überrumpelt war.

„Wir sind aktuell um die 20 Leute, alle zwischen Mitte 20 und 40. Dazu kommen noch etliche Kinder unter 8 Jahren. Wir leben in unserer Gruppe seit ungefähr 10 Jahren. Immer mit leichten Variationen – ein paar sind weg gegangen, ein paar neue dazu gekommen. Wie es halt so ist."

Ich merkte einen leichten Stich in der Brust, als sie die Kinder erwähnte. Doch auf das wollte ich nicht eingehen. „Man kann einfach so Mitglied sein oder wieder gehen?"

Überrascht blickte sie mich an „natürlich. Wir sind doch kein Gefängnis. Wir sind immer wieder umgezogen, das wollen nicht alle. Oder manche finden auch einen Partner und wollen mit ihm oder ihr zusammen leben. Da muss man sich dann entscheiden."

Ich nickte. Dann schien es keine Sekte zu sein, sondern eher ein loser Zusammenschluss. Doch irgend etwas störte mich daran, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was es war.

„Komm uns doch einfach mal besuchen. Dann zeige ich dir alles und stelle dir alle vor" schlug Annabelle vor.

Unsicher griff ich mir an den Hals. Da würde ich bestimmt auch Arvid treffen. Wollte ich das? Was würde er denken?

Ich schüttelte den Kopf „danke für die Einladung, aber ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre."

Enttäuscht sah sie mich an „schade, ich hätte gerne die Frau besser kennen gelernt, die Arvid in den Wahnsinn treibt. Bisher war es immer mein Privileg."

Erstaunt sah ich sie an. Scheinbar redete er mit seiner Schwester über mich. Eine ungewohnte Wärme breitete sich in mir aus. Das bedeutete wohl, dass ihm mehr an mir lag als ein schneller Fick.

„Ich gebe dir hier einmal meine Nummer. Wenn du dich umentscheidest oder Lust hast, mich wieder zu sehen, kannst du dich gerne melden. Ich muss jetzt los, ciao!" Winkend verließ Annabelle das Café und ließ mich mit meinem Gedankenkarusell zurück.


Zwischen Mann und MateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt