8. Kapitel

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Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, mich in das Wahlprogramm der PENU einzulesen. Die Abkürzung stand für „Partei für die Erhaltung von Natur und Umwelt". Sie war zu klein, um im aktuellen Wahlkampf eine große Rolle zu spielen. In letzter Zeit hatte sie allerdings mehr und mehr Zulauf bekommen. Vielleicht gelang ihr die Überraschung und sie kamen über die 5 % Hürde und zogen in den neuen Bundestag.

Hier in der Region hatte sich eine Bürgerbewegung gegen das neue Industriegebiet gebildet. Ich konnte mir gut vorstellen, dass viele derer Anhänger die PENU wählten. Über ihre Ansichten konnte ich nur den Kopf schütteln. Natürlich war es wichtig, dass die Natur bewahrt wird – aber das wird aktuell auch schon gemacht. Doch für unsere Wirtschaft und Sozialsystem war es essentiell, dass möglichst viele Leute arbeiten konnten. Und dafür benötigte man nun mal Industrie und in so einem Fall war meiner Ansicht nach die Bodenversiegelung zu tolerieren und nicht mit allen möglichen Mitteln zu boykottieren.

Gedanklich schob ich meine eigene Meinung nach hinten. Auch wenn sie anderer Ansicht waren als ich, war es meine Aufgabe möglichst neutral zu berichten.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es langsam Zeit wurde, sich fertig zu machen. Ich wählte ein Rock und eine Bluse. Ein Blick in den Spiegel sagte mir, dass meine braunen Haare genauso aussahen, wie sie sollten, nämlich glatt. Sorgfältig trug ich mein make-up auf und machte mich auf den Weg zu der Wahl-Veranstaltung.

Das Programm der PENU startete pünktlich mit einigen Reden der Spitzenkandidaten und des Direktkandidaten von unseren Wahlkreis. Sie waren gut und man merkte, wie viele der Zuschauer mitgerissen wurden. Ich vermutete allerdings, dass die meisten hier bereits auf ihrer Seite waren – von daher war das keine allzu große Kunst. Trotzdem musste ich der Spitzenkandidatin zugestehen, dass sie eine sehr gute Präsenz hatte und ihre emotionale Rede überzeugend war.

Ich schoss ein paar Fotos und machte mir Notizen über die Vorträge und die Reaktionen der Leute auf diese. Zugute halten musste ich, dass die Reden nach einer guten Stunde vorbei waren. Anschließend gab es für alle Anwesenden die Möglichkeit mit den Politikern ins Gespräch zu kommen.

Meine Arbeit hier war zum Großteil erledigt – immerhin war ich nicht dafür gebucht ein Interview zu führen. Dennoch blieb ich noch, um die ein oder andere Frage zu stellen. Ich verstand einfach nicht, warum sie so vehement gegen neue Industriegebiete waren.

Ich sah mich um, ob ich ein bekanntes Gesicht unter den Menschen sah. Bis ich ihn Ruhe mit der Spitzenkandidatin reden konnte, würde bestimmt noch eine Weile vergehen und etwas Unterhaltung konnte nicht schaden.

Dann spürte ich, dass mein Blick wie ferngesteuert in eine bestimmte Richtung gezogen wurde. Wie hypnotisiert wurde ich von dunklen, grau-blauen Augen gefangen gehalten, als eine mir mittlerweile vertraute Person näher kam.

„Hallo Süße, dich hätte ich hier jetzt nicht erwartet. Aber es freut mich, dass du dich für die Themen der PENU interessierst." Arvid stellte sich lässig zu mir an den Stehtisch, ohne den Blick von meinem Gesicht abzuwenden. Er hatte eine Jeans und ein Freizeithemd an, das an den Ärmeln hochgekrempelt war und so einen Blick auf seine Muskeln gewährte.

Ich spürte, wie sich mein Herzschlag erhöhte. Meine Wangen wurden warm vor Scham, als ich merkte, dass ich ihn angaffte. „Tu die keinen Zwang an, Süße. Du darfst schauen so viel du möchtest. Wenn du mehr sehen möchtest, dann brauchst du es nur zu sagen. Wobei ich dann einen etwas privateren Ort vorziehen würde." Ich hoffte, dass ich genug make-up aufgetragen hatte – sonst würde jeder sehen, wir meine Wangen einen deutlichen Rotton annahmen.

Noch immer schien mein Gehirn unter akutem Blutmangel zu leiden. Trotzdem zischte ich „nenn mich nicht Süße!" Da verzog sich sein Mund zu einem Grinsen und seine Augen blitzten fast spitzbübisch.

„Wie soll ich dich denn sonst nennen? Du bist für mich einfach unglaublich süß. Dein Duft ist berauschend." Mein Gegenüber hatte tatsächlich die Dreistigkeit sich etwas nach vorne zu lehnen und dann tief einzuatmen. Und alles was ich machen konnte war wie erstarrt da zu stehen.

„Wie wäre es mit Frau Gerlach?" antwortete ich auf seine Frage.

Doch da lachte er nur. „Wir waren bereits beim Du, von daher ist es dafür jetzt etwas spät." Ich schaute ihn verwirrt an – ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihm nicht erlaubt hatte mich zu Duzen. Arvid beugte sich etwas vor und flüsterte mir ins Ohr „ich mache dir einen Vorschlag: wenn du mit mir einen Kaffee trinken gehst, dann werde ich dich in der Öffentlichkeit zukünftig Tamara nennen."

Fieberhaft dachte ich über das Angebot nach. Ich wollte nicht mit ihm länger zusammen sitzen und small talk halten. Ein Gefühl sagte mir, dass das keine gute Idee wäre. Außerdem käme es einer Niederlage gleich. Aber da war noch etwas anderes, was meinen Atem beschleunigte und eine Sehnsucht tief in mir weckte. Und das flehte mich an, ihn besser kennen zu lernen. Ich fühlte mich wie zwischen Engel und Teufel. Doch ich wusste, was die einzige richtige Entscheidung in dem Fall war.

Fest sah ich ihm in die Augen und erwiderte „ich gehe nicht mit dir Kaffee trinken und du wirst mich in der Öffentlichkeit respektvoll ansprechen." Das schien ihm überhaupt nicht zu gefallen. Ich sah, wie ihm kurz die Gesichtszüge entglitten und Enttäuschung und Wut zum Vorschein kamen. Wenig später hatte er sich wieder unter Kontrolle und ich blickte auf einen Mann, der von Selbstbewusstsein nur so strotzte.

„Beides stand nicht zur Auswahl, Süße. Aber ich will nicht so sein: ich gebe dir etwas Bedenkzeit, damit du die richtige Entscheidung treffen kannst."

Arvid verschwand in der Menge und ließ mich leicht zitternd zurück. Ich legte meine Hand an den Hals und atmete tief ein und aus, um meine flatternden Nerven zu beruhigen. Nach einigen Minuten hatte ich mich so weit gefasst, dass ich mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren konnte. Ich schob jeden Gedanken an den zugegebenermaßen sexy, nicht mehr ganz so unbekannten Mann zur Seite. Um das würde ich mich ein anderes Mal kümmern. Und es würde ein erneutes Treffen geben, da war ich mir ganz sicher. Mein Herz schlug etwas härter bei den Gedanken daran – ob vor Freude oder vor Angst konnte oder wollte ich mir nicht eingestehen.

Zwischen Mann und MateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt