Mr. Evergreen

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Gleich am nächsten Morgen, bekamen sie ihre neuen Uniformen und sattelten ihre Pferde.
Versorgungswagen wurden vorbereitet und der Ritt hinter die Mauern begann.
Der erste Moment, als die Tore der Mauer Maria sich für sie öffneten, war berauschend.
Vor Eysa erstreckte sich eine völlig neue Welt.
Überall sah man nur endlose Weite und keine einzige Mauer war am Horizont zu sehen.
Man konnte sich fast schon einbilden, das selbst die Luft anders roch und schmeckte, was natürlich albern war.
Jedoch währte das Gefühl der Freiheit, das sich in Eysa auszubreiten begann, wie das sanfte Glimmen eines Feuers, nicht lang, denn auf süß, folgt bitter.
Titanen, welcher eben noch von der Mauergarnison mit Kanonen abgelenkt und beschossen worden waren, waren nur kurze Zeit später bereits überall.
Eysa, die bis dahin niemals einen Titanen gesehen hatte, hatte das Gefühl das Panik ihr innerstes fest umklammerte und sie regelrecht auf ihrem Pferd erstarren und die Zügel fester ergreifen ließ.
Sie sah ihre Kameraden fallen, sowohl Veteranen, als auch jene, die erst am Morgen mit ihr zusammen das erste Mal ausgezogen und am Abend zuvor dem Aufklärungstrupp beigetreten waren.
Es war schrecklich.
Einige wurden entzwei gerissen, anderen wurde in die Körper hinein gebissen und wieder andere wurden einfach nur verschlungen.
Doch eines hatten sie alle gemeinsam,... ihre Schreie.
Ihre verzweifelten Hilferufe, oder aber ihr einfaches um Gnade flehen, das deutlich über die Weite zu ihr hinüber schallte und noch lange nachdem sie verstummt waren, in ihr nachhallten.
Eysa wusste, sie würde nicht ein Gesicht aus dieser Mission und auch keines der kommenden, vergessen.
Diese Menschen hatten sich nun unweigerlich in ihr Gedächtnis gebrannt und würden ein ewiges Mahnmal dafür sein, das es jederzeit zu ende sein konnte.

Als sie nach Stunden, ohne Ziel und nennenswerten Erfolg, Shiganshina durchritten und von allen beschimpft wurden, spürte sie fast schon Erleichterung, auch wenn ihr der Hass der Menschen um sie herum völlig befremdlich und furchtbar erschien.
Eysa hatte an diesem Tag nicht einen Titanen getötet, hatte es nicht einmal versucht.
Sie war einfach stur weiter geritten.
Hatte das Zittern ihrer Hände mit den Zügeln darin nur zu deutlich gespürt, sowie die Anspannung in ihren Schenkeln, die sich verzweifelt versuchten am Pferderücken festzuhalten, wohl wissend, das ein Titan sie dennoch ohne weiteres vom Pferd reißen konnte.
Als sie Mikes Haarschopf in den Reihen vor sich entdeckte, hatte sie in ihrer Schande nicht einmal Furcht um ihn und Erwin verspüren können, so paralysiert war sie gewesen.
Doch als sie ihn sah, fiel ein Stein von ihrem Herzen und gehetzt blickte sie sich nach Erwin um, welchen sie dem Himmel sei Dank, noch weiter vorn ausmachen konnte.
Ihre Freunde lebten, sie lebte,... keiner von ihnen dreien war an diesem Tag einen „sinnlosen" Tot gestorben, wie Shadis es nannte.
Als sie alle zurück in der Kaserne waren, sattelte sie ihr Pferd ab, rieb es vom langen Ritt, trocken und gab ihm zu fressen und zu trinken, ehe sie wie betäubt den Stall verließ und sich auf dem Weg machte.
„Wohin gehst du?", hielt Mike sie auf und sie blickte geradewegs in sein ihr so vertrautes Gesicht.
„Ich gehe nach Quinta. Mein Vater und meine Schwester, sie.... ich habe es ihnen nicht gesagt, Mike."
Unsicher sah sie ihn an: „Sie wussten nicht welchem Regiment ich mich anschloss und heute... der Gedanke, mein Vater hätte von meinem Tot erfahren, ohne es vorher zu wissen, lässt mich nicht los."
Er nickte leicht, jedoch sehr ernst: „Soll ich dich begleiten?"
Sie schüttelte den Kopf: „Nein, das ist etwas, das ich alleine machen muss."
Aber dennoch dankbar, das er ihr dies als guter Freund angeboten hatte, berührte sie seinen Arm und rückte diesen kurz.
Ehe sie nun weitergehen konnte, erblickte sie Erwin, welcher nur stumm dastand und sie unergründlich beobachtete.
Sie wollte ihm winken, ihn zu sich rufen, doch wandte er sich auch schon ab und verließ die Koppel.
Schweigend sah sie ihm nach.
Mike hatte nicht einmal mitbekommen, das Erwin dorrt gestanden und sie angesehen hatte, weswegen sie auch nichts sagte, sondern einfach die Kaserne verließ, sich eine Kutsche nahm und nach Quinta zu ihrer Familie reiste.

Er hatte zu ihr gehen wollen, ganz ehrlich.
Er hatte sich davon überzeugen wollen, das es ihr gut ging, das alles in Ordnung war, doch dann...
Er hatte gesehen, wie sie Mike am Arm berührt hatte, hatte ihren Blick bemerkt, den sie ihm geschenkt hatte und wusste, er konnte nicht.
Das Gefühl das er jedes Mal empfand, wenn er sie so sah, war schlimmer als das, das er empfunden hatte, als Nile verkündet hatte, er ginge mit Marie aus.
Marie, von der er ehrlich sagen konnte, das er einer Verliebtheit nachgehangen hatte, war ihm nie so wichtig gewesen, wie Eysa.
Aber was war Eysa für ihn?
War sie wirklich nur eine Freundin?
Sagten ihm seine Gefühle für sie nicht genau das Gegenteil?
Verdammt, er ertrug diese dummen Gefühle nicht.
Sie waren hinderlich und er musste aufhören sich über diese Dinge Gedanken zu machen.
Denn wenn er ehrlich zu sich selbst war, war er draußen vor den Mauern versucht gewesen, zu ihr zu reiten und sie so gut es ging, zu beschützen, was einfach nicht richtig gewesen wäre.
Er konnte nicht einfach die gesamte Mission und andere in Gefahr bringen, nur um eine einzelne Person zu schützen.
Wütend über sich selbst ballte er die Hände und entfernte sich.

Es war ein langer und ereignisreicher Tag gewesen, welcher Eysa noch immer in den Gliedern und Verstand steckte und sie hoffte, das ihr Vater es ihr nicht allzu schwer machen würde.
Das er verstand, weswegen sie dies alles tat.
Sie würde ihm nichts von Erwin und ihrer Schuld erzählen, da ihn das nur wieder an seine eigene Schuld erinnern würde, als er sich nicht ansatzweise nach dem Tot seiner Frau, um seine Kinder kümmern konnte.
In Quinta vor ihrem Elternhaus angekommen, in dem im unteren Stockwerk die Bäckerei ihrer Familie war, hielt sie die Kutsche und stieg mit klopfendem Herzen aus.
Langsam trat sie an dem Geschäft vorbei, lief darum herum, stieg die Treppe zu den oberen Räumen hinauf und klopfte leise an.
Es dauerte nicht lange, da öffnete Nina mit einem strahlenden Lächeln die Tür: „Ich wusste du würdest kommen!", rief sie aus.
Nina, welche mit ihren 14 Jahren ein Stückchen größer war als Eysa, wurde von Jahr zu Jahr immer schöner.
Ihre kleinen, roten Locken umspielten sanft ihr zartes Gesicht, das ästhetisch von unzähligen Sommersprossen gesäumt war.Ihre großen blauen Augen, so unschuldig und klar, strahlten sie an, als würde sie sie vergöttern
Was wohl nur daran lag, das Eysa mit 11 Jahren die Mutterrolle eingenommen hatte.
Für sie, nur für sie wollte sie in Zukunft eine Welt ohne Titanen schaffen, eine freie Welt, ohne Grenzen und Mauern, die ihnen wie Vögel im Käfig die Flügel stutzte.
Ihre kleine Nina.
Sie und Eysa sahen sich nur in ihren Gesichtszügen und der Körperstatur ähnlich, ansonsten waren sie wie Tag und Nacht.
Ihre Haut, war zart und blass, wie Porzellan, wohingegen Eysas goldbraun von der Sonne war und nur wenige Sommersprossen um Nase und Wangen aufwies, anders als Ninas Gesicht.
Ihre blauen Augen waren groß und unsagbar schön, klar wie der Himmel, oder der sauberste Fluss.
Eysas jedoch waren, dunkel, wie wenn sich Wolken vor den Himmel schoben.
Kurz vor einem Sturm, oder Regenguss.
Eysas Haar, war nicht rot, sondern aschblond, wie das ihrer Mutter und doch war Nina die, von der man jetzt schon sagen konnte, das sie eine Schönheit werden würde.
Sogar mit ihren 13 Jahren erahnte man bereits ihre frauliche Figur, welche sie einmal haben würde, wohingegen Eysa eher schmächtig und dürr war, ohne nennenswerte Rundungen, oder einem gebärfreudigem Becken, wie es die alten gerne nannten.
Nina war all das, was ein Mann begehren würde und zum ersten Mal in ihrem Leben, wenn sie sie so ansah, fragte Eysa sich, warum sie nicht mehr aussah wie ihre Schwester.
Denn wenn sie mehr aussehen würde wie Nina, hätte Erwin vielleicht sie gesehen, nicht Marie.
Er hätte sie wahrgenommen und das nicht bloß als Kameradin, sondern als Frau.
Doch so erstaunt sie selbst über diese Gedanken war, denn hatte sie nicht einmal gewusst, das sie wollte, das er sie so wahrnahm, wollte sie nicht, das ihre Gedanken in Bezug auf Nina überschattet wurden von Neid, oder Gram.
Sanft lächelte Eysa zurück und nahm sie fest in den Arm, strich ihr über das wunderschöne, weiche Haar und küsste sie auf den Kopf, atmete ihren ihr so vertrauten Duft ein.
„Papa sagte, du bist bestimmt unter die 10 Besten gekommen, und hatte er Recht?", fragte sie aufgeregt und drückte sich leicht von ihr fort, um ihr in die Augen sehen zu können.
Doch als sie unter ihren grünen Umhang das Emblem auf der Brusttasche ihrer uniform entdeckte, das die Flügel der Freiheit darstellte, erlosch ihr Lächeln.
„Er wird es nicht verstehen", murmelte sie leise und sah sie erschrocken an.
Traurig lächelte Eysa, denn sie wusste es doch selbst.
Ihr Vater wünschte sich für seine Töchter ein gutes Leben, ein Leben in Sicherheit und vor allem mit einem Zukunft.
Doch ein Leben im Aufklärungstrupp wäre weder sehr sicher, noch Zukunftsorientiert.
Sie ergriff Eysas Hand und zog sie langsam mit sich hinein.
„Ihr wart heute draußen!", weiteten sich nun erschrocken ihre Augen, als ihr dies bewusst wurde, „sag mir nicht, das du auch schon dabei warst?"
Zögerlich nickte Eysa und sah ihren Mund sich öffnen, doch wurde sie bereits unterbrochen, als ihr Vater breit lächelnd das Wohnzimmer betrat, in welches die Haustür sofort führte.
Das Wohnzimmer war ein eher kleiner Raum, in dunklem Holz gehalten, einem kleinen Kamin, welcher vor dem Sofa und dessen Tisch stand.
Ein einfaches Bücherregal stand an der Wand und einige von Eysas Bildern, zierten die Wände.
Sie hatte als junges Mädchen das Zeichnen für sich entdeckt, gefördert von ihrer Mutter, hatte sie sich auf Portraits spezialisiert, doch mit dem Tot der Mutter und ihrer neuen Rolle in der Familie, hatte sie aufgehört zu Zeichnen.
Doch hatte ihr Vater die Bilder ihrer Familie, die sie einst gezeichnet hatte, liebevoll und stolz aufgehangen.
„Eysa, endlich!", rief ihr Vater freudig aus und umarmte seine älteste fest und liebevoll,wie Nina es zuvor getan hatte.
Er hielt ihre Oberarme fest und entfernte sich ein Stück von ihr, betrachtete mit einem Lächeln ihr Gesicht und sagte: „Ich wusste immer das du es schaffen würdest."
Unsicher betrachtete Nina die Szene und Eysa senkte bekümmert den Blick.
Sie wollte die Enttäuschung in den Augen ihres Vaters nicht sehen, wenn sie ihm gleich die Wahrheit eröffnete.
„ich bin im Aufklärungstrupp, Vater", sagte sie ohne Umschweife, jedoch weiterhin unsicher.
Sie spürte noch kurz seine sanften Hände an ihren Armen, ehe er sie losließ und zurücktrat.
Es war wie ein unsichtbarer Schlag.
„Eysa, was...", begann er, doch stockte er sofort wieder, griff erneut nach ihrem Arm und drehte sie grob herum, betrachtete das große Symbol auf dem grünen Umhang an ihrem Rücken und seufzte.
Eysa schloss die Augen und biss die Zähne zusammen.
Sie hatte ihrem Vater keinen Schmerz zufügen wollen, doch sie konnte diesen neuen Traum von einer freien Welt für Nina nicht aufgeben, nur damit sie seinen Traum erfüllte und in Sicherheit lebte, oder?
„Nina, verlass bitte das Zimmer", bat er ruhig.
„Aber Vater, ich...", doch unterbrach ihr Vater sie nun etwas harscher: „Verlass sofort das Zimmer!"
Selbst Eysa zuckte zusammen unter seinen wütenden Worten, wusste sie doch nur zu gut, wie Nina sich nun fühlen musste.
Nie zuvor hatte Vater so mit ihnen gesprochen und sie fürchtete sich vor den Worten, die nun gesagt werden würden.
Er ließ sie los, als Nina den Raum verließ und Eysa wandte sich ihm langsam und unsicher wieder zu.
Ihr Vater lief auf und ab, vermied es sie anzusehen und setzte sich schließlich auf das ausgediente Sofa und starrte auf den Boden vor sich hin.
„Vater, ich...", doch unterbrach er sie bloß mit einer erhobenen Hand: „Wieso?", fragte er leise und Eysa runzelte verwirrt die Stirn.
„Wieso hast du es nur immer so eilig vorauszugehen?", fragte er sie nun leise und Eysa stand wie erstarrt da.
„Was meinst du damit?", ihre Stimme war leise und gebrochen, doch hatte er sie verstanden, denn er sah nun zu ihr auf und seine Augen, ihre Augen, sahen sie verzweifelt an: „Du hattest es immer schon eilig allem voranzugehen. Du wolltest bei allem die Erste sein. Ehrgeizig und entschlossen, so ganz ohne Furcht."
„Ich bin nicht furchtlos, Vater", flüsterte sie verzweifelt und lief zu ihm hinüber, kniete vor ihm nieder und spürte die Tränen in ihren Augen.
„Ich bin alles, nur nicht furchtlos. Die Titanen, ich... habe so viele heute sterben sehen und dachte bei jedem Einzelnen von ihnen, wie dankbar ich bin, das ich es nicht war."
Ihr Vater schloss bei ihren Worten die Augen und sie sah die Tränen aus ihnen hervorquellen.
Sofort hob er eine Hand an sein Gesicht und wischte darüber hinweg.
„Mag sein, das die Angst dich lähmen wird. Aber dennoch bist du furchtlos, meine Tochter. Warum sonst würdest du deine Angst überwinden und diesen verfluchten Weg einschlagen?"
Eysa ergriff sein Handgelenk, zog es von seinem Gesicht und zwang ihn so in ihr ebenfalls verweintes zu blicken.
„Bitte, hasse mich nicht dafür, das ich so bin."
Er schüttelte den Kopf und legte sanft seine warme Hand auf ihre Wange: „Ich würde dich nie hassen. Du bist meine Tochter, mein wundervolles Kind und du bist wie deine Mutter. So voller Leben und Tatendrang. Du willst die Welt verändern und ich wünsche mir so sehr, das es dir gelingen wird und das du dich auf diesem Weg nicht selbst verlierst."
Eysas Unterlippe bebte und sie begann heftig zu weinen.
Ihre Sicht auf die Welt, auf ihren Vater, verschwamm und im nächsten Moment fiel er vor ihr auf die Knie und schlang seine starken Arme um sie.
Hielt sie fest, wie als wolle er sie vor dieser grausamen Welt beschützen, in die sie hineingezogen worden war.
Eine gnadenlose Welt, die alles verschlingen würde, wenn man nicht achtsam genug war.
Fest krallten sich ihre Finger in das Hemd an seinem Rücken und sie barg ihr Gesicht an seiner breiten Schulter.
Ihr Vater, der Fels ihrer Kindheit, weinte um ihretwillen und sie hoffte inständig, dass es das letzte Mal wäre.


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