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Harlow

„Kannst du das bitte noch bearbeiten und es dann an die Buchhaltung schicken? Es ist dringend und muss spätestens morgen früh raus. Ich würde es ja selbst machen, aber ich muss meinen Jungen aus der Schule holen."

Meine Kollegin lächelte mich lieb an, aber ihre Augen verrieten, dass er mal wieder beim Direktor saß, weil er etwas ausgefressen hatte. Eigentlich hätte ich ihr Angebot abgelehnt, denn ich versank selbst bis zum Hals in Arbeit. Dazu kam, dass der Chef mir im Nacken saß, der in den letzten Wochen wirklich schreckliche Laune hatte. Aber sie tat mir leid. Seitdem ihr Mann sie für eine andere verlassen hatte, bekam sie ihren Sohn beinahe gar nicht mehr gebändigt und sie war auf den Job und das Geld angewiesen.

„Leg es einfach auf den Stapel. Ich mach es heute noch fertig." Mit meiner rechten Hand deutete ich auf den Berg von Arbeit, welcher sich auf meinem Schreibtisch türmte und bedeutete, dass ich mal wieder Überstunden machen musste.

Sie legte die Akte ab und ging einmal um meinen Tisch, um mich in den Arm zu nehmen. „Du bist die Beste. Ich mache es wieder gut." Dann verließ sie mich und ich hätte es ihr gerne gleichgetan. Jedoch bräuchte ich dann nie wieder hierherkommen und meine kleine Wohnung, welche eher einem Loch glich, könnte ich dann auch kündigen und unter einer Brücke wohnen.

„Ist der Bericht fertig? Der Alte geht gleich an die Decke."

Ich konnte die Gespräche, welche meine Kollegen führten, deutlich hören. Auch sie hatten Angst vor dem Jähzorn, der jeden von uns treffen konnte. Von Jahr zu Jahr wurde es schlimmer, aber viele von uns hatten einfach nicht den Mut zu kündigen. So widerlich unser Chef war, so einflussreich war er. Diejenigen, die es wagten zu kündigen, fanden keinen Job mehr in der Stadt und wenn doch, war dieser weit entfernt von ihrem eigentlichen Tätigkeitsbereich. Als Tellerwäscherin wollte ich mein Geld nicht verdienen. Dazu waren mir die Jahre, die ich auf dem College verbracht hatte, zu schade.

Stunden verbrachte ich damit, mich durch sämtliche Akten, die auf meinem Tisch lagen, zu arbeiten und mein Feierabend rückte in weite Ferne. Überstunden gab es offiziell keine, was in etwa bedeutete, dass alle Stunden, die außerhalb meiner regulären Zeiten lagen, einfach verschwinden würden. Es änderte aber nichts daran, dass ich zu feige zum Kündigen war.

Draußen war es bereits dunkel und eigentlich wäre es am einfachsten gewesen, wenn ich einfach an meinem Schreibtisch geschlafen hätte, denn so würde ich zumindest annähernd an ausreichenden Schlaf kommen. Es wäre gelogen, wenn ich behauptet hätte, dass es mir nicht zu schaffen machte, beinahe kein Privatleben zu besitzen. Eigentlich wollte ich mir ein Haustier zulegen, aber ich hatte nicht einmal Zeit, um einen Goldfisch zu füttern.

Nachdem ich es geschafft hatte, alles abzuarbeiten, was sich aufgetürmt hatte, nahm ich die Akten in meine Hände, um sie in die Fächer der entsprechenden Abteilungen abzulegen. Ich war alleine, denn alle anderen waren bereits gegangen und sämtliche Lichter außer meines waren gelöscht. Es störte mich jedoch nicht, dass es ausnahmsweise mal ruhig im Großraumbüro war. Sonst herrschte immer ein reger Trubel, es sei denn, der Chef ließ sich blicken. In solchen Momenten konnte man eine Stecknadel fallen hören.

Ich ging zum Fahrstuhl und wählte die oberste Etage, denn zwei der Akten mussten direkt zur Geschäftsleitung. Zwar war niemand mehr da, aber es beruhigte mein Gewissen, dass so wichtige Dokumente direkt in der richtigen Abteilung ankamen. Im obersten Stockwerk angekommen ging ich den kleinen Flur entlang, bis ich an den Fächern ankam und die Akten ablegen konnte. Es war meine letzte Handlung und ich konnte endlich in den verdienten Feierabend gehen.

Warum es mir nicht bereits aufgefallen war, als ich noch im Fahrstuhl stand, wusste ich nicht, aber im Büro meines Chefs brannte noch Licht und die Tür stand ein Spalt offen. Er war sonst immer der Erste, der ging und ich dachte, er hätte vergessen, das Licht zu löschen. Als ich mich der Tür näherte, konnte ich Stimmen hören. Eine gehörte ihm, doch die andere konnte ich niemandem zuordnen, den ich kannte. Vorsichtig sah ich durch den Türspalt und ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Zwei Männer, eher Gorilla, standen neben meinem Chef, der aussah, als würde er am liebsten flüchten. Vor seinem Schreibtisch saß noch ein weiterer Mann, der jedoch seinen Rücken zur Tür gewandt hatte.

Der Zwiespalt in mir ließ mich einen Moment lang hadern. Es schien kein geschäftlicher Termin zu sein, der ihn so zusetzte und ich wollte einen kurzen Moment auf Nummer sichergehen, ob alles in Ordnung war. Andererseits hatte er eine Abreibung verdient. Diese Leute würden ihn hoffentlich nicht umbringen.

Gerade als ich mich zum Gehen abwandte, knurrte mein Magen so laut, dass man es vermutlich noch drei Blocks weiter hören konnte. Automatisch sah ich durch den Türspalt und vier Augenpaare lagen auf mir. Mein Herz rutschte mir in die Hose und ich gab dem ersten Reflex nach, der mir in den Sinn kam. Weglaufen.

Ohne abzuwarten, stürmte ich den Flur entlang und drückte die Tür auf, die ins Treppenhaus führte. Der Fahrstuhl hätte mit Sicherheit zu lange gebraucht und noch bevor die Türen sich geöffnet hätten, würden die Gorillas mich erwischt haben. Dass mir jemand nachlief, konnte ich anhand der schnellen Schritte hören, die mir folgten.

Während ich die Stufen nach unten lief und mir einfiel, dass ich noch einmal in das Großraumbüro musste, in welchem sich meine Handtasche befand, rief eine tiefe, kräftige Stimme, dass ich stehen bleiben sollte. In der richtigen Etage angekommen riss ich die Tür auf, eilte zu meinem Schreibtisch und nahm meine Handtasche. Ich löschte das Licht der kleinen Lampe, welche die einzige Lichtquelle des sonst dunklen Raumes war und verkroch mich unter meinem Tisch.

Dass mein Verfolger wusste, in welchem Stockwerk ich mich befand, wurde mir klar, als ich hörte, wie die Tür geöffnet und das große Deckenlicht eingeschaltet wurde. Ich kauerte mich noch mehr zusammen und hoffte, dass er mich nicht fand. Seine Schritte hallten auf dem Boden und irgendwann sah ich, wie zwei Paar lederner Schuhe an meinem Tisch vorbeigingen. Erleichtert machte sich in mir breit und als ich die Hoffnung hatte, mein Verfolger würde die Suche nach mir aufgeben, war es wieder das Knurren meines Magens, welches mich verriet.

Wie ein kleines Kind, das dachte, wenn ich ihn nicht sehe, sieht er mich auch nicht, verbarg ich mein Gesicht hinter meinen Händen. Ich konnte hören, wie mein Stuhl zurückgezogen wurde. Doch traute ich mich nicht, die Hände wegzunehmen, geschweige denn aufzusehen.

„Wen haben wir denn hier?", fragte die samtige Stimme, welche mir bereits zuvor im Treppenhaus hinterhergerufen hatte.

Es geht wieder los, ihr Lieben!
Ich hoffe, euch hat das erste Kapitel gefallen. (Auch, wenn es noch nicht allzu viel Informationen über Harlow preisgegeben hat.)
Fühlt euch gedrückt.
❄️

DedicationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt