Romeo
Als Maxime mich fragte, warum Frauen weinen, ohne verraten zu wollen, warum sie weinten, war ich mit der Situation eindeutig überfordert. Woher sollte ein Mann das wissen?
Harlow weinte im Wagen auf dem Weg in meine Wohnung, als ich sie ins Badezimmer geschickt hatte, damit sie ein Bad nehmen konnte und selbst als sie Maxime an die Hand nahm und in sein Zimmer führte. Dort sollte sie sich auf seine Anweisung hin in sein Bett legen und bekam ein Stofftier in ihre Arme gelegt.
Das war nun über eine Stunde her und seitdem war es ruhig. Maxime lag bei ihr und beide schliefen. Seelenruhig, als wäre nichts gewesen. Ich hingegen wusste nicht, an welchem Punkt genau ich die Kontrolle über alles verloren hatte. Vermutlich war es der Moment, an dem mein Sohn mir sagte, dass sie bei uns baden kann. Hätte ich sie in ihre eigene Wohnung gebracht, würde sie vermutlich noch immer weinen und Maxime hätte einen Tobsuchtsanfall bekommen.
Einen jener Anfälle, die er jedes Mal bekam, wenn er Mittagsschlaf machen sollte. Heute jedoch legte er sich ohne Widerstand oder aufgrund meiner Anweisung in sein Bett und kuschelte sich an unseren Gast. Jetzt hielt Harlow nicht nur das Stofftier, sondern auch Maxime in ihren Armen und würde mit Sicherheit auch nicht loslassen, wenn ich versuchen würde, ihn mit mir zu nehmen.
Es war ruhig und ich hatte die Möglichkeit, meiner Arbeit nachzugehen. Doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Nicht dass ich annahm, dass Harlow ihm etwas antat. Es lag eher an ihr, dass ich mich auf nichts konzentrieren konnte. Was hatte sie nur so aus der Fassung gebracht?
An ihrer Arbeit konnte es nicht liegen, denn ich wusste von Gibbs, dass sie sich diese Woche eine Auszeit nahm. War etwas in ihrer Familie vorgefallen und sie war deswegen so? Fragen über Fragen schwirrten durch meinen Kopf und ich hatte keine Antwort darauf. Vermutlich würde ich diese bekommen, wenn ich mich an Harlow wandte. Doch vorerst wollte ich sie schlafen lassen. Ihre Nerven sollten sich beruhigen und sobald sich die Situation etwas entspannte, würde ich vielleicht meine Antworten bekommen.
Wir kannten uns noch nicht lange und bei Weitem nicht gut genug, um irgendwelche Geheimnisse miteinander zu teilen. Sie hatte also keinen Grund, mir zu antworten. Jedoch hatte ich genauso wenig einen Grund, sie mit mir nach Hause zu nehmen. Auch wenn eine leise Stimme in meinem Kopf mir da widersprach. Harlow ging mir seit unserer ersten Begegnung nicht mehr aus dem Kopf und das Bild von ihr und Maxime, die aneinander gekuschelt schliefen, brannte sich regelrecht in mein Gedächtnis.
Genauso wie die Eifersucht, dass ich nicht mit ihnen dort liegen durfte. Zwar war ich ganz und gar nicht müde, aber trotzdem musste ich den Drang unterdrücken, mich nicht ebenfalls unter die Decke zu legen. Vermutlich würde die Hölle über mich einbrechen, denn was Harlow von mir hielt, konnte ich nicht einschätzen und nach ihrem kleinen Nervenzusammenbruch wollte und sollte ich nichts Unüberlegtes tun.
Zum Glück hatte ich Maxime auf meiner Seite und scheinbar durfte er alles. Während Harlow badete, suchte er in meinem Schrank nach einer Hose sowie einem Oberteil und brachte es ihr einfach ins Badezimmer. So manch andere Frau wäre vermutlich vor Scham im Boden versunken oder hätte ihn aus dem Raum geschickt, doch sie schien es gar nicht gestört zu haben, dass er ein und aus ging, wie es ihm gefiel. Vermutlich lag es aber eher daran, dass sie eh so gut wie gar nichts um sich herum mitzubekommen schien.
Ich sollte mich einfach damit zufriedengeben, dass beide schliefen und mich auf etwas anderes Einfacheres konzentrieren. Denn besonders produktiv war ich nicht. Wie lange ich bereits den Bildschirm meines Computers ansah, konnte ich nur grob schätzen. Also beschloss ich, es für heute sein zu lassen, und nachdem ich alles bei Seite geräumt hatte, verließ ich mein kleines Büro.
Auf dem Weg in die Küche kam ich an Maximes Zimmer vorbei, wo die Tür einen Spalt offen stand und mir einen guten Blick auf die beiden gewährte. Mein Sohn sprach seit der letzten Woche viel über seine neue Freundin, wie er sie nannte, und ich bekam wieder einmal das beklemmende Gefühl, dass ihm die Mutter fehlte. Doch ich würde den Teufel tun und diese Frau kontaktieren. Am Ende wären alle enttäuscht.
Ich schloss die Zimmertür und lief weiter den Flur entlang, als ich über etwas stolperte und mich gerade so auf den Füßen halten konnte. Es war Harlows Handtasche, die ich samt Inhalt einmal über den Boden verteilte. Sie muss die Tasche offen auf dem Boden stehen gelassen haben, als sie ihr Smartphone herausnahm.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf allen vieren über den Boden zu krabbeln und die vielen kleinen Gegenstände einzusammeln und zurückzulegen. Warum hatten Frauen so viel unnötiges Zeug in ihren Taschen? Dazu kam, dass sich scheinbar eine Art schwarzes Loch darin befand. Das konnte unmöglich alles in eine so kleine Tasche passen. Warum machten Frauen es nicht so wie wir Männer? Schlüssel und Geld waren doch vollkommen ausreichend. Wozu brauchte man Deodorant, Kosmetiktücher, ein Notizbuch, gefühlte zwanzig Kugelschreiber und die ganzen anderen Dinge? Wenn ich tief genug in die Tasche griff, was würde ich noch finden? Eine Bohrmaschine?
Zum Glück war niemand wach, der mich dabei beobachten konnte, wie ich versuchte, unter eine der Kommoden zu greifen. Scheinbar waren einige Papiere darunter gerutscht und ich zog nach und nach die Zettel hervor. Bei meinem Versuch, diese irgendwie zu sortieren, konnte ich nicht anders, als rauf zu sehen und ich bekam eine Vermutung, warum es ihr so schlecht ging.
Es waren Daten irgendwelcher Blutanalysen, die scheinbar von einem Spezialisten in Auftrag gegeben wurden. Ganz am Ende der ersten Seite stand eine Diagnose. Was war Morbus Osler? Von einer solchen Erkrankung hatte ich noch nie gehört und auch auf den weiteren Seiten fand ich keine Erklärung. Es waren Daten über Daten, die scheinbar nur ein Mediziner verstehen konnte, was mich auf eine Idee brachte. Ich zog mein Smartphone aus der Hosentasche und fotografierte jede einzelne Seite bis auf die Letzte. Darauf befand sich nur die Rechnung, die jedoch selbst mich stutzen ließ. Besaß sie keine Krankenversicherung?
Nachdem ich sichergegangen war, dass alles wieder in Harlows Tasche war, ging ich noch einmal zurück in mein Büro. Dann wählte ich eine Nummer, die ich seit einigen Monaten nicht mehr kontaktiert hatte und wurde mir darüber bewusst, dass es ausnahmsweise mal ich war, der um einen Gefallen bat.
„Hey Johnson", sprach ich in das Mikrofon, nachdem mein Anruf entgegengenommen wurde. Zumindest hatte ich nun so etwas wie eine Beschäftigung, bis Maxime oder Harlow aufwachten.
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Dedication
RomanceHarlow scheint die perfekte Definition für eine einfache und normale Frau zu sein. Sie lebt ihr Leben ohne größere Vorkommnisse und sitzt täglich, trotz jeglicher Widerstände, lächelnd an ihrem Schreibtisch. Das ändert sich jedoch, als sie nachts et...