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Harlow

Ich konnte gar nicht begreifen, was gestern geschehen war. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, kam es mir vor wie ein seltsamer Traum, zusammen gesponnen durch mein Unterbewusstsein. Ein solcher Mann konnte nur in meiner Fantasie existieren. Seine tiefe, kräftige Stimme bescherte mir Gänsehaut auf meinem gesamten Körper und die blauen Augen, die dunkler als meine eigenen waren, verfolgten mich überall hin. Er war groß und mit Sicherheit muskulös, während er etwas Gefährliches ausstrahlte, was ihn nur noch anziehender wirken ließ.

Es gab nur zwei Probleme, denn zum einen kannte ich weder seinen Namen und zum anderen wusste ich nicht, ob er wirklich so ungefährlich war, wie er sagte. Einen solchen Menschen konnte und wollte ich nicht in meinem Umfeld haben. Egal, wie faszinierend und anziehend ich ihn fand. Mein eigenes Leben war schon dramatisch genug und ob ich nach diesem Tag noch einen Job hatte, würde sich erst noch zeigen. Vielleicht hat der Unbekannte mich belogen und mein Chef war verschwunden oder lag tot in seinem Büro. Es war aber auch durchaus möglich, dass ich mir zu viele Gedanken machte und einfach nichts geschah. Ich würde ihn nie wieder sehen und konnte mich weiterhin auf mein eigenes Leben konzentrieren.

Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich beobachtet wurde. Schon beim Verlassen des Wohnkomplexes oder des Rattenlochs, wie ich es liebevoll nannte, schien es, als würde mich jemand verfolgen. Deshalb beeilte ich mich besonders, damit ich die Busstation so schnell wie möglich erreichte. Dass ich es einmal so eilig haben könnte, zur Arbeit zu erscheinen, hätte ich gestern noch lachend abgetan, doch konnte ich dieses unangenehme und beklemmende Gefühl nicht abschütteln. Deshalb hechtete ich beinahe in den Bus, welcher mich die nächste halbe Stunde durch die Stadt chauffierte, bevor ich umsteigen musste, damit ich nochmals so lange unterwegs war.

Gerne hätte ich eine Wohnung, die näher an meinem Arbeitsplatz lag. Doch ich konnte es mir schlichtweg nicht leisten und wenn ich doch etwas fand, was in meiner Preisklasse lag, war es meist in einem noch schlimmeren Zustand als mein momentanes Zuhause oder ich bekam keine Zusage für die Wohnungen, die mir gefielen. Natürlich hätte ich nach einer Gehaltserhöhung fragen können, damit ich bessere Chancen auf dem Wohnungsmarkt bekäme, aber das gehässige Lachen meines Chefs konnte ich bereits in meinen Ohren hören. Er würde sich eher die Hand abhacken, als einem der Angestellten mehr Lohn zu zahlen.

Scheinbar nutzte mein Kopf den letzten Gedanken dazu, um sich wieder dem unbekannten Adonis zuzuwenden. Was wäre, wenn er doch etwas in Bewegung gesetzt hatte und sich die Situation zum Positiven wendete? Ich schüttelte meinen Kopf, wollte die Gedanken loswerden, die mich langsam an mir selbst zweifeln ließen, denn ich benahm mich beinahe wie ein verliebtes Mädchen, welches sich den Träumereien hingab. Unsere Begegnung war kurz, aber hinterließ eindeutige Spuren in meinem Bewusstsein und, irgendwie musste ich es schaffen, diesen Mann zu vergessen. Es würde wohl noch einige Zeit dauern, aber in spätestens zwei Wochen hätte ich das alles hinter mir gelassen.

Als der Bus die Station erreichte, von der ich nur noch wenige Minuten zu Fuß gehen musste, bekam ich erneut das Gefühl beobachtet zu werden. Wurde ich paranoid oder setzte mir das erlebte vom Vorabend doch mehr zu, als ich es bisher vermutet hatte? Einen kurzen Augenblick stand ich, unschlüssig, was ich als Nächstes tun sollte, auf dem Gehweg. Dann rang ich mich dazu durch, etwas von meinem wenigen Geld auszugeben und mir etwas zum Frühstück in der kleinen Bäckerei zu kaufen, an welcher ich schon so viele Male vorbeigelaufen und sehnsuchtsvoll hineingesehen hatte.

Ich betrat das kleine Geschäft und sofort umhüllte mich dieser angenehme Geruch, der dafür sorgte, dass mein Magen sich lautstark meldete. Scheinbar ein Zeichen dafür, dass ich mehr auf meine Ernährung achten sollte. Ich besah die Auslage und mir lief, bei den ausgelegten Leckereien, das Wasser im Mund zusammen. Lange musste ich nicht überlegen, denn ich besaß schon immer eine Schwäche für herzhafte Speisen, während ich süße Dinge nur ungern aß.

Nachdem ich mich mit der Verpflegung für den nun bald beginnenden Arbeitstag eingedeckt hatte, verließ ich die Bäckerei wieder und dann entdeckte ich es. Mein Gefühl beobachtet zu werden kam nicht von irgendwo, denn tatsächlich erkannte ich die beiden Gorillas von letzter Nacht. Dieser Luxusschlitten müsste mir eigentlich schon beim Verlassen meines Wohnkomplexes aufgefallen sein, denn niemand in dieser Gegend fuhr ein solcher Wagen. Dass ich ihn jedoch entdeckte, war eher Zufall. Genauso wie ich von Glück sprechen konnte, als ich erkannte, dass die zwei miteinander im Gespräch vertieft waren und somit scheinbar gar nicht bemerkten, wie ich vor ihnen auf der anderen Straßenseite stand.

Wenn die beiden hier waren, war er es dann auch? Ich befand mich in einem inneren Kampf. Im Grunde wollte ich unbedingt wissen, ob der gut aussehende Fremde bei ihnen war, andererseits wusste ich nichts über ihn. Also entschied ich mich dafür, schnellstmöglich ins Büro zu gehen. Vielleicht war das alles auch nur ein großer Zufall und sie beobachteten mich gar nicht, sondern meinen Chef.

Sollte Letzteres der Fall gewesen sein, dann hatten sie ihren Job wirklich schlecht gemacht. Ich war noch nicht einmal richtig im Gebäude angekommen als ich sah, wie alle wild hin und her liefen und einander Worte oder kurze Sätze zuriefen. Bis ich verstand, was sie sagten, verging einige Zeit und so richtig begriff ich es erst, als der Erste mit einer Menge Büromaterial unter den Armen an mir vorbei ins Freie trat. Unser Chef war verschwunden!

Viele, besonders diejenigen, die ihre einzige Einnahmequelle als verloren ansahen, weinten und so sehr ich unseren Chef auch verabscheute, so sehr war auch ich den Tränen nahe. Wie sollte ich nun noch meine Miete zahlen oder mir etwas zu essen kaufen können? Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen, denn vor wenigen Minuten hatte ich mir etwas gekauft, was mir in diesem Moment wie unnötiger Luxus vorkam. Wenn ich mir selbst etwas zu essen gemacht hätte, hätte ich eine Menge Geld sparen können.

Daran waren nur diese drei Männer schuld! Ich konnte spüren, wie Zorn in mir hochstieg und noch ehe ich mir Gedanken über die Konsequenzen meines Handelns machen konnte, ging ich zurück auf die Straße. Mein Ziel vor Auge lief ich auf den Wagen zu, in dem die Gorilla noch immer saßen und sich über etwas amputieren und klopfte an die Scheibe der Fahrertür.

DedicationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt