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Romeo

„Entweder ist die Kleine unglaublich mutig oder unfassbar dumm."

„Wenn es nach mir geht, dann ist sie einfach irre. Bis zu diesem Zeitpunkt gingen wir davon aus, dass sie Angst vor uns hat."

Jessie und Gibbs hatten mich vor einer Stunde angerufen und im Hintergrund konnte ich bereits hören, dass das Engelchen vom Vorabend ihnen ordentlich die Hölle heißmachte. Ich bin tatsächlich nicht davon ausgegangen, dass Miller versuchen würde unterzutauchen. Dieser Idiot sollte doch wissen, dass ich Mittel und Wege hatte, um ihn ausfindig zu machen, und es waren tatsächlich nur wenige Anrufe nötig, damit alle seine Konten gesperrt wurden und er dadurch dazu gezwungen war, sich bei mir zu melden. Man sollte nie den Fehler machen, meine Drohungen nicht ernst nehmen. Ich gab ihm eine Wahl und er entschied sich für die falsche Option.

„Was machen wir jetzt?", fragte Jessie und erwartete scheinbar eine passende Lösung, welche ich mir bereits in meinem Kopf zurechtgelegt hatte.

„Ich warte, bis Miller hier auftaucht", antwortete ich knapp. Er brauchte Geld und ich war seine einzige Chance.

„Das ist alles?" Gibbs schien mit meiner Antwort nicht zufrieden zu sein und auch Jessie sah so aus, als ob er mit meiner Vorgehensweise alles andere als glücklich war. „Die Kleine hat uns beinahe die Köpfe abgerissen, dabei ist so zierlich und sie hat Worte gesagt, die niemand in den Mund nehmen sollte."

Jessie sah wie ein kleiner Junge auf den Boden. „Sie war wirklich gemein zu uns."

Nicht ganz unverständlich. Ihr Chef war verschwunden und damit das Einkommen von ihr und ihren Kollegen. Dazu kam, dass sie vermutlich davon ausging, dass wir etwas damit zu tun hatten. „Es war vermutlich ein Fehler, euch auf sie anzusetzen. Wir hätten uns auf Miller konzentrieren sollen."

„Dann wäre sie nicht so gemein zu uns gewesen." Jessie sah ganz und gar nicht danach aus, aber in seinem Inneren war er sehr sensibel. Der Macho, den er zeigte, wenn es darum ging, andere einzuschüchtern, war nur Fassade. Wie eine Maske, die er sich aufsetzte, wenn es nötig war.

Gibbs war in dieser Hinsicht schon anders. Er war ähnlich gestrickt wie ich und ließ sich von ein paar unbedacht gesagten Worten nicht so leicht aus der Fassung bringen. Dazu kam, dass er einen messerscharfen Verstand besaß. Deshalb war er hervorragend für mein Vorhaben geeignet.

„Du wolltest doch schon immer selbstständig arbeiten. Hier hast du die Chance dazu."

Ich ging davon aus, dass er sich über diese Chance freuen würde, aber seine Reaktion zeichnete ein anderes Bild. „Das kann nicht dein Ernst sein", rief er aufgebracht. „Ich würde gerne etwas machen, dass mir liegt. Hier weiß ich noch nicht einmal, was diese Firma überhaupt macht. Wie soll ich sie dann führen?"

„Keine Sorge. Ich habe die Bücher gesehen und scheinbar hat Miller auch keine Ahnung davon. Du kannst also nicht schlechter sein als er", meinte ich ruhig. „Sitz am besten den ganzen Tag an deinem Schreibtisch und lasse die Angestellten die Arbeit für dich erledigen. Ich kümmere mich um alles Weitere und wenn es geregelt ist und du noch immer der Meinung bist, es nicht machen zu wollen, können wir die Firma noch immer abstoßen."

„Du meinst, wenn alles mit dem kleinen Drachen geregelt ist?" Ich brauchte nicht einmal zu versuchen, etwas vor den beiden geheimzuhalten. „Du hast keine Vorstellung davon, wo und wie sie lebt. Es ist die reinste Bruchbude."

„Es geht nicht um Harlow", versuchte ich ihnen meinen Standpunkt klarzumachen, was aber nur dazu führte, dass beide dumme Geräusche von sich gaben. Im Hinterkopf notierte ich mir die Information zu ihrem Wohnort. Diesen würde ich mir noch einmal genauer ansehen. „Ich will Menschen helfen und nicht deren Leben zerstören. Doch es sieht momentan alles danach aus, als würde ich mehrere Existenzen am Rand eines Abgrunds drängen und das war nie mein Ziel."

„Wir müssen also den Karren aus dem Dreck ziehen", schlussfolgerte Gibbs. „Warum es ausgerechnet ich sein muss, versteh ich zwar noch nicht, aber du wirst schon deine Gründe dafür haben."

Er musste es sein, weil er ein Zahlengenie war. Ich würde es auch tun, aber meine eigene Firma spannte mich zu sehr ein und Jessie fehlte es schlicht an der inneren Ruhe, um sich mit so vielen Angestellten auseinandersetzen zu können. Vermutlich würde er innerhalb eines Tages alles kurz und klein schlagen und somit die Angestellten vertreiben.

„Du meintest doch letztens erst, dass deine Frau dir schon lange damit in den Ohren liegt, dass du dir etwas Eigenes suchen sollst. Ewig können wir nicht auf Romeos Kosten leben." Wo er diese Seite von sich versteckte, wusste ich nicht, aber Jessie hatte oftmals das Talent, zur richtigen Zeit die richtigen Worte zu finden.

Die zwei waren schon seit Jahren an meiner Seite. Alles begann damit, dass ein Klient es sich nicht leisten konnte, mich als seinen Anwalt zu engagieren. Einer seiner Geschäftspartner hatte ihn über den Tisch gezogen und ihm alles genommen. Ich hatte Mitleid mit diesem Mann und fand in einem Boxklub, in welchem ich zu dieser Zeit noch regelmäßig trainierte, Jessie und Gibbs, welche mittlerweile meine besten Freunde waren. Mit deren Hilfe und ganz am Rande der Legalität schaffte ich es, an die Unterlagen zu kommen, welche ich damals für diesen Fall benötigte. Seitdem hatte ich einen Ruf in gewissen Kreisen. Ich half Leuten, tat ihnen gefallen und irgendwann würde ich ebenfalls einen Gefallen von eben diesen einfordern.

„Also ist es abgemacht? Du wirst vorerst dein eigener Boss und sorgst dafür, dass die Leute ihren Job nicht verlieren. Ich besorge nachher die nötigen Unterschriften von Miller." Es würde einfach werden, immerhin wollte er sein Geld und nur ich konnte dafür sorgen, dass seine Konten wieder freigegeben wurden. Danach konnte er verschwinden. Es war mir egal, was aus diesem Abschaum wurde. Solche Leute hatten das riesige Vermögen, auf welchem sie saßen, nicht verdient und den Verlust seiner Firma würde er mit Sicherheit verkraften. Er sollte sie mir ja nicht schenken, irgendwo in diesem Büro habe ich mit Sicherheit noch etwas Bargeld liegen.

„Du solltest dem kleinen Drachen Blumen schicken. Nach dem Schock heute Morgen hat sie es bestimmt nötig, etwas aufgemuntert zu werden", riss Gibbs mich aus meinen Gedanken und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen, während ein wissendes Grinsen seine Lippen umspielte.

„Oder Schokolade", warf Jessie ein. „Ihrem Ausbruch nach zu urteilen hat sie bestimmt noch ein ganz anderes Problem."

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