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Harlow

„Können wir aufhören? Es sind zu viele Informationen für einen einzelnen Tag." Gibbs sah aus wie ein Häufchen elend, während ich ihm die einzelnen Abteilungen, deren Aufgaben sowie die wichtigsten Angestellten erläuterte.

Das alles dauerte bereits mehrere Stunden, weil er noch immer wieder irgendwelche Fragen stellte, dabei war ich noch lange nicht fertig.

„Du darfst gerne gehen und dir morgen von deiner rechten Hand nochmals alles erklären lassen", lachte ich. Dabei war auch ich bereits genervt von dem Ganzen. „Carr hilft dir bestimmt gerne."

„Zu gütig, dass meine Angestellte mir erlaubt, nach Hause zu gehen." Nun musste auch er lachen. „Aber bitte, erwähne diesen Namen nicht. Ist er wichtig? Muss ich ihn behalten?"

Am liebsten hätte ich den Kopf geschüttelt, doch egal wie sehr ich ihn verabscheute, ich wollte nicht Schuld daran sein, dass jemand seinen Job verliert. „Du solltest dir selbst ein Bild davon machen."

„Warum könnt ihr Frauen nie klar sagen, was ihr wollt? Meine Frau ist genauso. Wenn ich noch einmal höre, dass ich sie zu ihrem Geburtstag mit irgendwas überraschen soll, nehme ich mir einen Strick."

Überrascht sah ich ihn an. „Du bist verheiratet?"

„Seit fünf Jahren", antwortete er. „Also muss ich dich enttäuschen, falls du dir Hoffnung gemacht hast."

Es war seltsam. Während er mir gestern noch unglaublich große Angst gemacht hatte, was es heute, nach ein paar Stunden bereits so, als würde ich Gibbs seit Jahren kennen und bereits seit Ewigkeiten für ihn arbeiten.

Theatralisch griff ich an mein Herz. „Ich hoffe, dass ich es eines Tages verkraften kann."

„Vielleicht lernt ihr euch mal kennen. Ich denke, ihr würdet euch verstehen." Gibbs erhob sich aus seinem Stuhl und holte einen Autoschlüssel aus seiner Hosentasche hervor. Gedankenverloren blickte er diesen an. „Muss ich hier abends abschließen?"

„Wenn du dir ein Vorbild an deinem Vorgänger nimmst, musst du nicht mal jeden Tag zur Arbeit kommen. Die stellvertretende Geschäftsleitung übernimmt gerne deine Aufgaben", erläuterte ich. „Aber wenn du Dinge hast, von denen du nicht willst, dass Außenstehende sie zu Gesicht bekommen, solltest du zumindest dein Büro abschließen. Soweit ich weiß, hat niemand sonst einen Schlüssel für diesen Raum."

Gibbs ging an mir vorbei zur Tür und öffnete diese. Er sah nicht danach aus, aber er hatte Manieren und wartete an seiner Bürotür, bis ich vor ihm den Raum verließ. „Ich weiß nicht, ob dieser Justus für diese Position geeignet ist."

„Justin", verbesserte ich ihn, während wir den Flur entlang zum Fahrstuhl gingen.

„Mir egal, wie er heißt. Er hat etwas an sich, dass ich nicht mag." Er betätigte den Knopf und die Fahrstuhltür öffnete sich.

Ich schmunzelte. „Mach dir dein eigenes Bild von ihm." Ich wählte mein Stockwerk aus und wartete an der Tür, während Gibbs abseits stand.

„Du solltest auch Feierabend machen", meinte er, nachdem er bemerkt hatte, dass ich nicht vorhatte, mit ihm ins Erdgeschoss zu fahren.

„Ich muss noch etwas abarbeiten, aber es sollte nicht länger als zwei Stunden dauern", meinte ich. „Außerdem will ich nicht, dass einige hier auf dumme Gedanken kommen", gab ich meine Bedenken offen zu. Dass man mir eine Affäre mit dem neuen Boss nachsagte, noch dazu am ersten Tag, war weit entfernt von dem, was ich wollte.

„Dann wäre ein Geschenk, welches auf deinem Schreibtisch auf dich wartet, alles andere als produktiv."

Ich drehte meinen Kopf zur Seite und blickte ihn an, während er auf sein Smartphone sah. „Was hast du getan?"

Gibbs zuckte mit den Schultern. „Ich habe gar nichts getan. Es war auch nur eine rhetorische Frage." Während er sprach, tippte er scheinbar eine Nachricht.

„Ich möchte keine Geschenke und erst recht nicht hier." Mit diesen Worten verließ ich den Fahrstuhl und würde Gibbs wohl erst am nächsten Tag wieder sehen. Was sollte diese Frage? Er meinte doch selbst, dass er verheiratet war.

„Bis Morgen, kleiner Drache", rief er mir hinterher und noch eher ich antworten konnte, schlossen sich die Türen.

Eigentlich sollte ich wütend auf Gibbs sein, denn niemand würde sich über eine solche Anrede freuen. Aber das Gegenteil war der Fall. Ich empfand es als recht amüsant und solch lustige Dinge passten zu ihm, zumindest so weit ich es bisher einschätzen konnte. Fest stand jedoch, dass er mir tatsächlich sympathischer war als mein alter Chef und hoffentlich würde es so bleiben.

„Was denkst du eigentlich, wer du bist?"

Ich erschrak, als ich Justin Carr sah, der an meinem Schreibtisch saß, auf welchem sich ein riesiger Berg von Akten stapelte, welcher zuvor noch nicht dort war.

„Willst dich wohl beim neuen Chef einschmeicheln?", rief er so laut, dass es jeder andere im Großraumbüro hörte. „Machst du etwa die Beine für ihn breit?"

Mir stand der Mund offen und ich wusste nicht, was ich auf diese Anschuldigungen antworten sollte. Deutlich konnte ich hören, wie einige empört nach Luft schnappten. Hoffentlich nicht, weil sie ihm glaubten, sondern wegen der Unverschämtheit, die er sich öffentlich herausnahm.

Er erhob sich und schob schwungvoll alle Akten vom Tisch, sodass diese sich auf dem Boden davor verteilten. „Bis morgen früh will ich, dass du alles abgearbeitet hast. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen, dass du dir etwas Neues suchen kannst." Dann schritt er an mir vor und ließ mich noch immer sprachlos zurück.

„Komm", hörte ich plötzlich eine Stimme und sah eine meiner Kolleginnen, welche zu mir kam und sich auf den Boden hockte, um die Akten aufzuheben. „Ich helfe dir."

Es war nur ein leichtes Nicken, welches ich zustande brachte und mich dann ebenfalls daran machte, alles einzusammeln. „Ich habe nichts mit ihm", versuchte ich mich zu verteidigen.

„Das glaube ich dir und selbst wenn es so wäre. Es geht niemanden etwas an", versuchte sie mich zu beruhigen. „Du hast etwas Glück verdient und wenn unser neuer Chef derjenige ist, dann hoffe ich, dass er doch glücklich macht."

Gemeinsam legten wir alles auf meinen Tisch und ich bedankte mich noch mehrmals für ihre Hilfe. Es war eine Menge Arbeit und vermutlich würde ich diesmal wirklich die ganze Nacht damit zubringen, alles zu erledigen. Ich setzte mich, schaltete meinen Computer an und schlug die erste Akte auf, während in meinem Hinterkopf immer derselbe Satz widerhallte.

Ich hatte auch etwas Glück verdient.

DedicationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt