2

658 59 2
                                    

Romeo

„Wen haben wir denn hier?"

Ich fand es amüsant, wie sich die Frau, welche ich bis hierher verfolgt hatte, unter dem Tisch versteckte und die Hände vor ihr Gesicht hielt. Diese Art des Versteckspiels war mir durchaus bekannt.

Mein Aufenthalt hier war bisher kein Vergnügen. Miller, dieser kleine Widerling, hatte seine Machtspielchen zu weit getrieben. Deswegen war ich hier. Gibbs und Jessie brachte ich mit, damit sie ihm etwas Angst machten, denn ich hatte keinesfalls vor, ihm körperlich zu schaden. Er musste nur Grenzen vorgezeigt bekommen und darin war ich gut. Leute riefen mich an, wenn sie einen Gefallen brauchten und in diesem Fall tat ich es gerne. Zu viele Leben hatte er bereits mit seinem Verhalten zerstört.

Niemand außer uns sollte noch hier sein und umso überraschter war ich, als sich herausstellte, dass es einen heimlichen Beobachter gab. Unglaublich, wie schnell sie laufen konnte. Anhand der Situation, die sie vermutlich gesehen hatte, war es aber kein Wunder, dass sie vor mir geflüchtet ist.

„Möchtest du dich noch lange unter dem Tisch verstecken?", fragte ich, und zwei blaue Augen sahen mich ängstlich an, als sie ihre Finger langsam spreizte. Ich gab ihr die Zeit, die sie brauchte, denn ich konnte mir nur zu gut vorstellen, dass sie Angst vor mir hatte. Die Situation in Millers Büro hätte jeden erschreckt.

Langsam nahm sie ihre Hände nach unten und zuckte vor mir zurück, als ich nach ihrem Gesicht griff.

„Bitte töte mich nicht", kam flüsternd über ihre Lippen und ich hätte gelacht, wenn nicht etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte.

„Du blutest", sprach ich leise und sah auf das Blut, welches aus ihrer Nase trat. „Hast du dich beim Weglaufen gestoßen?"

Ein leises Oh kam über ihre Lippen, als sie kurz auf ihre Hände sah und das Blut bemerkte. Neben ihr auf dem Boden lag eine Tasche, welche vermutlich ihr gehörte und vorsichtig, ohne mich aus den Augen zu lassen, griff sie danach und öffnete sie. Als sie im Inneren eine Packung Taschentücher fand, nahm sie eines heraus und hielt es sich an die Nase.

„Brauchst du etwas zum Kühlen?", fragte ich und setzte mich ihr gegenüber auf den Boden. Sie war kleiner als ich, denn selbst jetzt überragte ich sie. Diese absurde Situation erinnerte mich an eine Katze, welche eine Maus beobachtete und sich für einen Angriff bereit machte. Dabei hatte ich nicht vor, ihr etwas anzutun.

Der blauäugige Engel schüttelte vorsichtig ihren Kopf. „Es hört gleich auf", flüsterte sie.

Wie konnte sie sich da so sicher sein? Sie blutete offensichtlich nicht stark, aber das hieß nicht, dass es so schnell aufhören würde.

Einige Minuten saßen wir uns schweigend gegenüber und beobachteten einander, bis sie das Taschentuch von der Nase nahm. Es hatte tatsächlich aufgehört zu bluten.

„Wirst du mir wehtun?"

Ich musste schmunzeln. Natürlich gingen ihr derartige Gedanken durch den Kopf, aber ich schüttelte meinen Kopf. „Nein. Warum sollte ich?"

Sie schien meinen Worten nicht so recht glauben zu wollen. Ihr skeptischer Gesichtsausdruck ließ mich erahnen, was wirklich in ihrem Kopf vorging. „Wegen dem, was ich oben gesehen habe."

„Du arbeitest hier?", fragte ich und sie nickte. „Dann wirst du es bestimmt verstehen, wenn ich dir sage, dass dein Chef sich zu viele Freiheiten herausnimmt. Er hat sich mit den falschen Leuten angelegt und darum sind ich und die beiden anderen hier. Aber ich habe nicht vor, ihn zu töten."

„Er hätte eine Abreibung verdient." Als die bemerkte, was sie da eben gesagt hatte, schien sie über ihre eigenen Worte erschrocken zu sein. „Es tut mir leid. Ich hätte so was nicht sagen sollen."

Tatsächlich hätte ich aufgrund ihres Aussehens und ihres bisherigen Verhaltens nicht mit einer solchen Aussage gerechnet. „Ich gebe dir recht. Er hat es verdient, denn vielen Leuten wurde durch sein Handeln die berufliche oder private Zukunft verbaut."

Sie legte die Stirn leicht in Falten und legte ihren Kopf schief. „Muss ich mir Gedanken machen, weil er mich gesehen hat?"

Diese Frau erschien mir wie eine Wundertüte. Allein die Situation, dass wir uns gegenübersaßen und uns unterhielten, war absurd. Dass sie eine seltsame Faszination auf mich ausübte, war mir ab dem Moment bewusst, als ich entschied, ihr zu folgen, während Gibbs und Jessie bei Miller blieben. Als ich ihre blauen Augen durch den Türspalt sah, wusste ich, dass ich ihr folgen musste.

„Du solltest dir mehr Gedanken darum machen, warum dein Magen ununterbrochen knurrt. Man könnte meinen, dass du seit Tagen nichts gegessen hast."

„Wir haben keine Mittagspause. Unser tägliches Pensum wäre nicht erreichbar, wenn wir unsere Zeit mit einer Pause verschwenden."

Diese Worte waren nicht ihre eigenen. Nach dem Gespräch, welches ich bereits mit meinem Auftraggeber geführt hatte, wusste ich, dass es Millers Worte waren.

„Du solltest nach Hause gehen. Ich werde mich darum kümmern, dass du keine Probleme bekommst." Ich stand auf und reichte ihr meine Hand, damit sie endlich unter dem Tisch hervorkam. Zu meiner Überraschung griff sie ohne zu zögern danach und ließ sich von mir auf die Beine helfen. Tatsächlich war sie weitaus kleiner als ich. „Wie heißt du?" Ich musste ihren Namen wissen, bevor sie ging. „Ohne Namen kann ich bei Miller nicht viel für dich machen", schob ich als Ausrede vor. Als ob er sich wagen würde, ihr das Leben weiter schwer zu machen, wenn ich mit ihm fertig war.

Sie stand mir noch immer gegenüber und hielt die Handtasche an ihre Brust gedrückt. „Ich bin Harlow."

„Es freut mich, deine Bekanntschaft gemacht zu haben." Sie verließ das Büro nicht ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, und ich konnte nicht anders, als ihr wie ein verliebter Junge hinterherzusehen. Was genau mich an ihr faszinierte, konnte ich nicht sagen, aber ihre Augen würde ich so schnell nicht vergessen.

Ich brauchte bald zehn Minuten, um mich zu sammeln und in das Büro zurückzukehren, in welchem Gibbs und Jessie darauf warteten, was genau ich nun mit Miller anstellen würde. Viel Arbeit war, so wie ich die beiden kannte, nicht mehr übrig. Sie waren Spezialisten darin, andere psychisch zu zermartern.

„Ich werde jetzt ein paar Bedingungen aufzählen, die einzuhalten sind, damit ich es mir vielleicht noch einmal überlege, ob ich die Steuerfahndung auf alles hier ansetze", begann ich sofort, nachdem ich zu den anderen zurückgekommen war. „Doch zuerst möchte ich noch einige Informationen haben."

Miller sah aus, als ob er jeden Moment auf die Knie sinken und um sein Leben flehen würde. Er klammerte sich regelrecht an seinen Stuhl und dicke Schweißperlen liefen über sein faltiges, ungepflegtes Gesicht. „Alles. Ich mache alles", beteuerte er.

„Ich will sämtliche Informationen über die Angestellte, die uns beobachtet hat."

Jessie ließ lachend den Kopf sinken, während Gibbs sein breites Grinsen offen zur Schau stellte.

„Woher soll ich wissen, wie das kleine Miststück heißt? Ich habe viele Angestellte. Was interessiert mich ein kleines Licht?" Anscheinend hatte er vergessen, dass nicht er derjenige war, der hier das sagen hatte.

Mein Blick wanderte zu Gibbs, der wortlos verstand, was ich wollte. Er drückte Millers Kopf auf die Tischplatte, während dieser begann, sich zu entschuldigen. Es würde noch eine lange Nacht werden und so sehr ich es genoss, Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, wanderten meine Gedanken immer wieder zu der blauäugigen Schönheit.

DedicationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt