Harlow
Drei Stunden. Ich hätte drei Stunden schlafen können, aber anscheinend hatten meine Nachbarn etwas dagegen. Als ich den Hausflur betrat, stieg ich über eine Schnapsleiche, welche mitten im Weg lag und als ich endlich meine Wohnung erreicht hatte und einfach nur ins Bett fallen wollte, hörte ich das Geschrei meiner Nachbarn über mir. Ich kannte sie nicht, aber vermutlich lebte eine armenische Großfamilie in dieser kleinen Wohnung, denn anders konnte sich dieses laute Wirrwarr an Stimmen nicht erklären.
In dieser Wohnung würde ich nie zur Ruhe kommen und die Erholung erhalten, welche mein Körper so dringend benötigte. Ich fasste den Entschluss, noch einige Wochen abzuwarten. Sollte sich meine berufliche Situation wirklich verbessern und ich keine Angst mehr davor haben müssen, jederzeit ohne Einkommen dazustehen, dann würde ich mir eine neue Wohnung suchen. Etwas zentraler vielleicht mit einem kleinen Balkon. Hauptsache weg aus diesem Haus aus dieser Straße und aus diesem Viertel.
Carr und seine Äußerungen verunsicherten mich zunächst, aber dank der Aussage, welche Gibbs zuvor getätigt hatte, machte ich mir keine allzu großen Sorgen. Er wäre wahrscheinlich nicht in der Lage dazu, mich aus der Firma zu bekommen. Das konnte nur Gibbs und scheinbar mochte er mich. Zumindest zeigte er mir gegenüber nicht die Art von Ablehnung, die er Miller oder Carr zukommen ließ.
So kam es, dass ich wieder einmal völlig übermüdet an meinem Arbeitsplatz saß und meinen Kopf auf die Tischplatte legen wollte, um einfach nur zu schlafen. Daran hinderte mich jedoch der Stapel an neuen Akten, welche sicherlich Carr dort abgelegt hatte. Ein Blick auf die anderen Tische genügte, um mir die Bestätigung dafür zu geben, dass wirklich nur mein Arbeitsbereich so überladen mit Akten und Papieren war.
Am liebsten hätte ich alles genommen und Justin Carr in seine hässliche Visage geworfen. Doch dann kam mir das Drama in den Sinn, welches er vermutlich veranstalten würde. Gestern ging er bereits zu weit und ich hatte so eine Ahnung, dass er noch viel weiter gehen würde, wenn er die Gelegenheit dazu bekam.
Ich hatte solche Angst vor den Konsequenzen, dass ich es nicht einmal gewagt hätte, Gibbs um Hilfe zu bitten. Wenn er eingriff, würde es die Anschuldigung, welche Carr gestern erhoben hatte, nur noch weiter befeuern. Zwar war der Großteil meiner Kollegen mit Sicherheit auf meiner Seite und tat die Gerüchte als das ab, was sie waren, aber würde es immer wieder jemanden geben, der es für die Wahrheit hielt.
Somit blieb mir nichts anderes übrig, als meine Arbeit zu machen und in der Hoffnung, dass mich der Elan doch noch packen würde, zog ich die erste Akte an mich heran und begann damit diese zu bearbeiten.
Wie lange ich im Endeffekt an meinem Schreibtisch saß und Akte für Akte durchsah, wusste ich nicht, denn ab einem gewissen Punkt hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Erst als ein Becher auf meinem Tisch abgestellt wurde, in welchem sich vermutlich Kaffee befand, wendete ich mein Blick von jenen Zahlen ab, mit welchen ich seit Ewigkeiten beschäftigt war. Als ich aufsah, erkannte ich, dass Gibbs derjenige war, der mir den Muntermacher spendierte. Gleich darauf wurde mir bewusst, dass ich erneut die Letzte war, die sich in dieser Abteilung befand.
„Wir sollten über dein Arbeitspensum sprechen." Zwar lächelte Gibbs, aber sonderlich begeistert schien er nicht zu sein. „Du solltest nach Hause gehen und vielleicht etwas schlafen. Deine Augenringe geben mir bereits an meinem zweiten Tag das Gefühl, ein schlechter Arbeitgeber zu sein."
Ich griff nach dem Becher und nahm einen großzügigen Schluck daraus. „Es sind nicht mehr viele Akten und ich sollte es heute noch erledigen", sprach ich und stellte den Becher zurück, um mich weiter meiner Arbeit zu widmen. „Vielleicht noch zwei Stunden, dann gehe ich auch. Außerdem gibt es hier keine Überstunden."
„Nicht?" Die Verwirrung, die ich durch meine Aussage ausgelöst hatte, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. „Aber es gibt doch eine Zeiterfassung. Darin wird alles vermerkt."
„Deine rechte Hand hat die Zugangsdaten von jedem Angestellten und sorgt dafür, dass wirklich niemand, außer ihm auch nur eine einzelne Stunde zu viel arbeitet. Es würde zu viele Kosten verursachen."
Gibbs wollte etwas sagen, doch wurde er durch ein Klingeln unterbrochen, und welches von seinem Handy kam. Er entschuldigte sich und nahm das Gespräch an, während er den Raum verließ. Die Chance nutzte ich und ging weiter meiner Arbeit nach.
Ich wusste nicht, wie lange er weg war, aber als ich Schritte hörte, ging ich davon aus, dass Gibbs zurück war. „Solltest du nicht nach Hause gehen? Ich schaffe es auch ohne deine Hilfe", sprach ich, ohne aufzusehen.
„Das solltest du auch. Immerhin ist es dein Job und wenn du ihn behalten willst, solltest du dir mehr Mühe geben."
Erschrocken sah ich auf und erkannte, dass nicht Gibbs es war, der zurückgekommen war. Es war Carr und seine Anwesenheit erschrak mich. Was hatte er hier um diese Zeit zu suchen?
„Kann ich dir helfen?", fragte ich vorsichtig und schlug die Akte vor mir zu.
„Das hoffe doch." Ein widerliches Grinsen erschien in seinem Gesicht und verzog sein Antlitz zu einer hässlichen Fratze. „Ich bin noch immer der festen Überzeugung, dass du dich äußerst gut mit dem neuen Chef verstehst. Zu lange habe ich mir alle erdenkliche Mühe gegeben und von einer Hure wie dir lasse ich mir nun nicht alles kaputtmachen." Während er sprach, schritt er auf mich zu. „Er lässt mich nur zu deutlich spüren, dass er ein Problem mit mir hat und daran bist nur du schuld."
Es war pure Angst, die mir in die Knochen kroch, während er bedrohlich weiter auf mich zukam. „Ich habe nichts getan", stammelte ich und erhob mich vom Stuhl.
„Ich verlange von dir, dass du mit ihm sprichst und gewisse Dinge richtigstellst." Er packte mich am Arm und zog mich nach vorne, sodass ich mich mit der anderen auf dem Tisch stützen musste. „Wenn ich bis Ende der Woche keine Besserung mitbekomme, dann mache ich dir dein kleines und erbärmliches Leben zur Hölle."
„Aber ich habe nichts getan", rief ich aus und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien.
„Du wagst es, mir Widerworte zu geben?" Carr schrie mich an und holte mit seiner freien Hand aus.
Ich schloss meine Augen und erwartete den Schlag in mein Gesicht, welcher jedoch nicht kam. Als ich mich traute nachzusehen, warum die erwartete Ohrfeige ausblieb, erkannte ich, dass es Gibbs war, der ihn daran hinderte zuzuschlagen.
„Du solltest verschwinden", raunte Gibbs und ließ keinerlei Spielraum für irgendwelche Widersprüche. Nun war er wieder der Gorilla, vor dem ich mich bei unserer ersten Begegnung so gefürchtet hatte.

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Dedication
RomanceHarlow scheint die perfekte Definition für eine einfache und normale Frau zu sein. Sie lebt ihr Leben ohne größere Vorkommnisse und sitzt täglich, trotz jeglicher Widerstände, lächelnd an ihrem Schreibtisch. Das ändert sich jedoch, als sie nachts et...