27

439 50 0
                                    

Romeo

In einer Woche würde ich Harlow in die Klinik bringen und auch wenn es hieß, es würde voraussichtlich sechs bis zwölf Wochen dauern, war es genau das, was mich störte. Voraussichtlich. Was sollte das heißen? Niemand konnte uns einen genauen Zeitrahmen nennen, sondern nur grobe Angaben machen und das war etwas, mit dem ich nicht umgehen konnte. Zwar käme sie zwischendurch nach Hause und wir würden sie mit Sicherheit besuchen, aber den Großteil ihrer Zeit sollte sie dort verbringen. Natürlich war es das Beste. Keiner wusste, wie die Teilnehmer auf die Medikamente reagierten oder ob es zu Komplikationen kommen könnte.

Von hinten schlangen sich zwei Arme um mich und ich spürte den zarten Körper, der sich lacht an mich presste. „Du wirkst angespannt."

„Es ist einfach nicht mein Tag." Ich drehte mich in ihrer Umarmung, schlang meinerseits die Arme um sie und gab ihr einen sanften Kuss. „Und, dass du bald an dieser Studie teilnimmst, es nicht wirklich besser."

Den Zweifel, den ich damit in ihr ausgelöst hatte, konnte man förmlich greifen und ich bereute das Gesagte. Erneut beugte ich mich zu ihr hinab und gab ihr noch einen Kuss. „Mach dir keine Sorgen. Wir schaffen das. Ich musste einfach meinen Frust ablassen und es tut mir leid, wenn ich damit deine Gedanken belaste."

„Du kannst mich jederzeit anrufen. Die werden mir mein Handy schon nicht wegnehmen", witzelte sie, und es war ein eindeutiger Versuch, ihrerseits die Stimmung zu lockern. „Aber wenn ich nicht mehr auf deine Anrufe reagiere, bin ich vermutlich mit einem sexy Pfleger durchgebrannt."

Sie löste sich von mir und ging lachend ins Wohnzimmer, während ich regelrecht verdutzt dastand. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was sie da gesagt hatte, und ich eilte ihr hinterher. Dabei drohte ich damit, dass ich sie immer zu mir zurückholen würde.

„Vergiss das Popcorn nicht", rief sie mir entgegen und tatsächlich musste ich wieder umdrehen, denn ich hatte es in der Küche stehen lassen.

Wir würden die letzten gemeinsamen Tage völlig entspannt mit Maxime verbringen, den ich für diese Zeit im Kindergarten abgemeldet hatte und Filme gucken, die er sich aussuchen durfte oder Spiele spielen.

Harlow arbeitete seit zwei Wochen von zu Hause und Gibbs war jeden Tag aufs Neue erstaunt darüber, wie schnell sie ihre Aufgaben erledigt hatte. Sie wollte einfach so viel Zeit wie möglich mit uns verbringen, bevor sie in die Klinik ging und dazu gehörte, zumindest für sie, dass sie Maxime so früh wie möglich aus dem Kindergarten abholte und den Nachmittag mit ihm verbringen konnte.

Maxime verstand, warum Harlow eine Zeit lang nicht bei uns sein konnte, und sie musste ihm einen Kleinen-Finger-Schwur geben, dass sie wieder zu ihm zurückkommt. Mein Sohn erwähnte mich dabei mit keiner Silbe. Ganz so, als wäre ich außen vor. Doch an so etwas war ich bereits gewöhnt. Manchmal, wenn ich mit ihm schimpfte, was wirklich selten vorkam, kam in mir der Gedanke auf, dass er mich gerne in diesem Moment gegen Harlow eintauschen würde. Sie schimpfte wirklich nie und versuchte ihm immer auf Augenhöhe zu erklären, was er falsch gemacht hatte. Eine Fähigkeit, um die ich sie wirklich beneidete.

Gemeinsam lagen wir keine zehn Minuten später auf dem Sofa, versteckt zwischen Decken und Kissen, mit unzähligen Süßigkeiten um uns herum und starrten wie gebannt auf den Bildschirm. Zumindest sollten wir das, aber Maxime schlief schnell ein und Harlow und ich nutzen die Gelegenheit für andere Dinge. Wenn man es genau nahm, sollten wir gar nichts von dem hier machen, denn es war erst eine Stunde her, dass wir gemeinsam zu Mittag gegessen hatten. Doch die letzten Tage wollten wir voll auskosten und wenn ein ungesunder Lebensstil dazugehörte, dann sollte es eben so sein.

Doch unser entspannter Tag sollte schnell unterbrochen werden, als es an der Tür klingelte. Immer wieder ertönte dieses nervtötende Geräusch und irgendwann setzte sich Maxime verschlafen auf und fragte, ob nicht jemand endlich die Tür öffnen konnte. Immerhin wollte er schlafen. Harlow zuckte mit ihren Schultern und somit musste ich aufstehen.

Auf dem Weg zur Tür fluchte ich vor mir her und sollte es sich nicht um einen Notfall handeln, würde ich den Störenfried die Tür einfach vor der Nase zuschlagen. Ich griff nach dem Hörer der Gegensprechanlage und versuchte nicht einmal, meine schlechte Laune zu verbergen. Ich blaffte mein Gegenüber regelrecht an und wollte wissen, wer uns denn störte und wieso. Auf die Antwort jedoch war ich ganz und gar nicht vorbereitet. Nun war ich mir sicher, dass es sich um einen Notfall handelte, und ich betätigte den Knopf, der dafür sorgte, dass mein Besucher in der richtigen Etage aussteigen konnte.

Noch bevor der Fahrstuhl auf unserer Etage ankam, ging ich zurück ins Wohnzimmer, um Harlow anzuweisen, dass sie Maxime in sein Zimmer bringen sollte. Ohne auf ihren verwirrten Blick einzugehen, ging ich zurück zur Tür und öffnete diese gerade in dem Moment, in welchem die Mitarbeiter des Child Care Service in Begleitung zweier Officer des örtlichem Police Departments aus dem Aufzug traten.

Tief in mir wusste ich, dass ich nichts falsch gemacht hatte und es keinen wirklichen Grund gab, aus welchen diese Leute zu mir kamen. Sie würden mir Maxime nicht wegnehmen, nur weil er diese Woche nicht in den Kindergarten ging. Noch dazu hatte ich ihn dort abgemeldet. Kurz überlegte ich, wer mir etwas Böses wollen würde, doch fiel mir niemand ein und bei meinem Job, zumindest dem Inoffiziellen, war ich immer äußerst vorsichtig und ging auf Nummer sicher, dass ich keine Gesetze brach.

Die nächste halbe Stunde nahm ich durch eine Art Schleier war. Es war Harlow zu verdanken, dass ich überhaupt so einer Art Handlung in der Lage war. Sie war diejenige, die diese Leute in unsere Wohnung ließ und ihm etwas zu trinken anbot, während ich wie versteinert auf das kleine Mädchen blickte, die eine exakte Kopie meines Sohnes war. Beinahe verzweifelt klammerte sich an ein kleines Stofftier und blickte mich mit ihrem großen Augen an. Scheinbar verstand sie noch weniger als ich, was hier vorsichtig.

Ich hatte sie zuerst gar nicht gesehen, da sie sich hinter einem der Sozialarbeiter versteckte, und es war Harlow, die sie zuerst bemerkte, vor ihr auf die Knie ging, um sich vorzustellen.

Was die leitende Sozialarbeiterin zu mir sagte, als wir in der Küche ankamen, hörte ich nicht wirklich. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, das Mädchen anzusehen. Sie war vielleicht ein Jahr jünger wie Maxime und tief in mir wusste ich, dass sie mein Kind sein könnte, denn einige Monate nach Maximes Geburt war ich mit Denise noch zusammen, bevor diese einfach verschwand.

Erst als Maxime von hinten angelaufen kam und sich vor die Kleine stellte, um sich vorzustellen, bekam ich wieder mehr von meiner Umwelt mit. Eigentlich durfte er nicht aus dem Zimmer, wenn Fremde zu Besuch waren. Es war eine reine Vorsichtsmaßnahme, aber in diesem Moment war ich unglaublich dankbar dafür, dass er sich meinen Anweisungen widersetzt hatte.

Unsicher blickte sie ihn an und traute sich scheinbar nicht zu antworten. Letztendlich war es die Sozialarbeiterin, welche es für die Kleine übernahm.

„Das ist Birdie."

DedicationWo Geschichten leben. Entdecke jetzt