Falsche Entscheidungen

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ALIA

Alia betrat japsend die überwucherte Lichtung. Am anderen Ende, in eine Biegung des kleinen Baches geschmiegt, lag die langsam vor sich hin bröckelnden Ruine der alten Mühle.
Die junge Frau hob den Kopf und witterte.
Göttin sei dank! Da war er, der Geruch ihres Vaters. Eine tiefe Erleichterung durchströmte Alia, als Gregor Benson aus dem Gebäude trat.
„Göttin! Es geht dir gut," rief er erleichtert.
„Papa.. es tut mir so leid! Ich weiß nicht, wie das alles so schief gehen konnte!!!" wimmernd stürmte Alia über die Lichtung und warf sich in die Arme ihres Vaters.
„Mach dir keine Gedanken, Liebling. Wir wussten doch, dass unser Geheimnis irgendwann auffliegen würde."

‚Wie wahr,' dachte Lia. Ähnlich wie die Menschen, die sich auf einen Weltuntergang vorbereiteten, hatten die Bensons alles für eine eventuelle Flucht gepackt. Es gab Überseekonten und Pässe mit einer komplett neuen Identität. In den Rucksäcken, die in der Ruine versteckt waren, befanden sich Ersatzkleidung, Geld und der Proviant darin welcher für mehrere Tage reichte wurde ständig kontrolliert und erneuert.

Gregor Benson führte seine Tochter in die alte Mühle, bedeutete sie sich zu setzen und zwang sie, etwas zu essen und zu trinken. „Ist dir jemand gefolgt?" fragte er. Alia schüttelte den Kopf. „Ich glaub nicht...ich meine... keine Ahnung. Tut mir leid, Papa. Ich bin einfach gerannt.." Ihr Vater nickte nachdenklich. „Gut, sobald du dich etwas ausgeruht hast, machen wir uns vom Acker. Die Rudelgrenzen sind nahe. Wenn Alpha Warren keinen Krieg mit dem Eifelrudel riskieren will, sollten wir dort sicher durchschlüpfen können."
Alia seufzte traurig auf: „Wir werden nie wieder nach Hause zurückgehen können oder?" Gregor Benson schüttelte den Kopf. „Nein, mein Herz. Es tut mir so leid. Ich weiß, dass du deine Freunde vermissen wirst, aber es geht nicht anders."
Alia dachte an Ace.
Ach, Göttin... er wird ihr so schrecklich fehlen! Und das Höllentrio? Das Schnurren, Lucan's Tollpatschigkeit, Grayson's gelassene ruhige Stärke und Konstantin's Humor... Und das SCHNURREN!!! Tränen traten in ihre Augen. Der Verlust der vier fühlte sich wie ein glühendes Messer in ihrem Herzen an.

Ihre Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, an dem Ace sich entschlossen hatte, sie als kleine Schwester zu adoptieren...
Lia hatte sich mit ihrem Vater gestritten, da sie unbedingt zu Kayla und ihrer Übernachtungsparty gehen wollte. Da die Delta aber ein Wandler war und somit mitten im Herzen des Rudelgebietes lebte, hatte Gregor es verboten. Zu groß war die Gefahr, dass bei dem wilden herumtollen mit den jungen Wölfen Alias Tarnung aufflog. Zudem war sie erst vor kurzem als Omega erwacht und der Freitot ihrer Mutter lag dementsprechend auch noch nicht lange zurück. Vater Benson trauerte immer noch und fürchtete nun nur noch mehr um seine Kleine...
Wütend war die Teenagerin in den Wald gerannt und hatte ihren traurigen und zutiefst enttäuschten Papa nach dem Streit allein im Haus zurückgelassen.
Während sie fluchend und schimpfend über den Waldpfad trottete und dabei einige sehr unfeine Kraftausdrücke benutzte, bemerkte sie in ihrem Frust nicht, dass sie nicht mehr alleine war. Ein wirklich sehr großer goldfarbener Wolf schritt neben ihr her und beschnüffelte sorgfältig jeden Stein, ob er eine Gefahr für das niedliche, weißhaarige Mädchen darstellte.
Alia starrte ihn entgeistert an. Natürlich erkannte sie den zukünftigen Beta Ace Cunningham in seiner Wolfsform. Er war ein paar Jahre älter als sie und derart attraktiv, dass die meisten ihrer Klassenkameradinnen vor Schock in Ohnmacht gefallen wären, würden sie jetzt gerade an ihrer Stelle sein.
Das Mädchen war selbst recht klein und so ging ihr das Seelentier des Wandlers bis an die Brust, sie sah sich nun Auge in Auge mit den scharfen weißen Reißzähnen gegenüber. Aber Lia hatte keine Angst. Wie fast alle Männchen der Blackford Gemeinschaft, hatte Ace sehr starke Beschützerinstinkte, die sich nicht nur auf Mitglieder des Rudels beschränkten.
Der Rüde wedelte träge mit der Rute und stupste sie mit dem Maul an, dann schnupperte er neugierig an ihren Haaren. Ein leises Kläffen zerzauste die hellen Locken und das Mädchen konnte nicht widerstehen. Sie vergrub ihre Hände in dem prächtigen Fell des Wolfes und kraulte ihn. Zufrieden ließ sich das riesige Tier auf den Boden plumpsen und so verbrachten sie den restlichen Tag miteinander. Ace sorgte dafür, dass sie wieder sicher nach Hause kam und da sie sich in der Zwischenzeit beruhigt hatte, konnte sie dich dann auch mit ihrem Papa vertragen. 

„Wir müssen jetzt los, Lia" flüsterte ihr Vater mitten in ihren Tagtraum hinein. Die junge Frau nickte, wischte sich die Tränen von den Wangen und bückte sich nach dem kleineren Rucksack. Der Wind drehte und Alia sprang rückwärts. Sie sah mit riesigen Augen ihren Papa an. Gregor schnupperte und knurrte leise. Er wies seine Tochter an zurück zu bleiben, schritt aus der Ruine und auf die sechs Rudel-fremden Wölfe zu.

„Das ist nicht euer Revier! Unser Alpha ist informiert, dass ihr euch unrechtmäßig hier aufhaltet. VERSCHWINDET!" donnerte er.
Die Wölfe knurrten nur und begannen ihn langsam zu umkreisen. Alia krallte sich in die Wand und starrte entsetzt durch den Mauersprung auf das Geschehen. Sollte es zum Kampf kommen... nein, WENN es zum Kampf kam, könnte sie ihren Vater nicht helfen. Sie hatte seit Beginn ihrer Pubertät Unterdrücker zu sich genommen und ihre innere Wölfin war als Folge dessen noch nie hervor gekommen.

Der graue Anführer-Wolf schnellte vorwärts und rammte seinen Kopf in Gregors Bauch. Ihr Vater ging zu Boden, schrie über die Schulter: „LAUF!", rollte sich herum und verwandelte sich brüllend in seinen braunen Wolf. Mit einem markerschütternden Heulen warf er sich in den Kampf. Wütend verbissen sich die Wölfe in Alias Vater und sein Schreien wurde gequält. Alia schluchzte auf, packte aber gehorsam ihren Rucksack und rannte durch die Ruine und sprang auf der Rückseite über den kleinen Bach. Während sie sich von den Kampf weiter entfernte, konnte sie hören, wie das Jaulen und Knurren ihres Vaters schlagartig verstummte. Und die Stille und die Gewissheit trafen sie wie ein Vorschlaghammer. Nun war sie ganz allein auf der Welt.

Eine seltsame Leere breitete sich in Alia aus. Sie taumelte durchs Unterholz, in ihren Ohren die Todesschreie ihres Papas und bekam nicht einmal mit, wie sie die Grenzen zum Eifelrudel überschritt. Sicher, sie hätte zu den Blackfords zurückgehen können, aber ihre beiden Eltern hatten ihr Leben geopfert, damit Alia frei leben konnte. Das wegzuwerfen käme doch einem Verrat gleich, oder nicht?!
Tränenblind prallte Alia auf einmal gegen einen Mann. Er war groß, sehr groß, attraktiv mit braunen Wuschelhaaren und grauen Augen. Zweifellos ein Alpha.
Er musterte die junge Frau, trat näher an sie und sog gierig ihren Duft ein.
„Na, was haben wir denn hier? Eine süße, unbeanspruchte kleine Omega... was machen wir jetzt wohl mit dir, hm?" summte er zufrieden.
‚Jepp, ich hätte definitiv zu den Blackford zurückgehen sollen', dachte Alia betäubt, als der Mann vorsprang und seine Reißzähne in ihrer linken Schulter vergrub.

AliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt