Kapitel 2

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Leise schleiche ich auf die Treppe zu und knie mich hinter dem Geländer hin. "Du kannst doch unser gemeinsames Leben hier nicht einfach aufgeben!" Eine Frauen-Stimme. Ich brauche einige Sekunden um zu realisieren, dass die Stimme meiner Mutter gehört und jetzt erst fällt mir auch zum ersten Mal auf, dass ich sie noch nie schreien gehört hatte. Sie klingt nicht wütend, sonder eher hysterisch. " Nicole, zum allerletzten Mal, ich gebe unser Leben hier nicht auf, aber so haben wir nun mal keine Zukunft!" Das ist mein Vater. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Eine Vermutung, worüber sie da reden, schleicht sich langsam in meinen Hinterkopf ein, ich schiebe sie sofort von mir.


Ich höre meine Mutter schluchzen. Sie weint. " A-Aber unsere Freunde... u-unser ganzes Leben...Daniel" Ihre Stimme klingt flehend. So flehend, dass ich am liebsten zu ihr laufen würde und sie umarmen will. "Ich weiß Nici, aber wir haben keine Wahl. Du hast keinen Job und ich behalte meinen nur weil ich zu gesagt habe." Warte, Job? Worum geht es hier überhaupt?! " Ich will nicht nach Whittier und Will und Katie bestimmt auch nicht... Sie haben hier ihre Freunde, und die Schule..." "Will kann hier bleiben, ein Jahr vor seinem Abschluss können wir ihn nicht einfach in eine neue Schule stecken. Er zieht einfach bei einem Freund ein und macht die Schule fertig. Und Katie... Sie- " ,er zögert , ganz so als ob er jedes seiner Worte abwiegen muss " Sie wird es sicher verstehen..." Mein Vater und ich hatten nie eine besonders gute Verbindung gehabt, nicht das wir uns nicht mögen, es ist eher so, dass wir uns gegenseitig so gut kennen, wie eine Katze die Maus kennt, die sie gleich hinunterschlingt.


Wir ziehen also um... Was soll das heißen? Heißt das, dass ich einfach mein Leben über Bord werfen soll? Heißt das, dass ich meinen Bruder vielleicht nicht mehr sehe?Heißt das, dass ich England einfach so verlassen werde?

Wo soll Whittier überhaupt sein?


Ich gehe in mein Zimmer. Anders als beim Rausschleichen, nehme ich jetzt keine Rücksicht mehr auf meine Lautstärke. Ich knalle die Tür hinter mir zu und werfe mich auf meinen Stuhl. Dann drehe ich mich mit dem Gesicht zu meinem Computer und drücke auf den kleinen Knopf mit dem Einschalt-Zeichen. Während mein PC hoch fährt, blicke ich aus dem Fenster. Nein, ich will nicht fort, selbst wenn Whittier nur fünf Minuten weg von hier wäre, ich will nicht weg. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und ich werde es auch nicht aufgeben.

Aber vielleicht ist Whittier doch gar nicht soo schlimm, sagt eine Stimme in meinem Kopf.


Ich tippe das Passwort ein und öffne Google. W h i t t i e r . Die erste Seite die ich sehe ist Wikipedia, ich klicke darauf und lese: "Whittier ist ein Ort in der Valdez-Cordova Census Area des US-Bundesstaats Alaska mit 220 Einwohnern. ... " Alaska?! ALASKA?! ALASKA?!


Die Hoffnung, dass es vielleicht doch nicht so schlimm werden würde, erlischt in mir schneller als eine Kerze im Regen. Alaska. Kalt. Schnee. Eis... 220 Einwohner. Alaska. Kalt. Schnee. Eis. 220 Einwohner. Ich werde die Neue sein. Jeder dort wird wahrscheinlich jeden kennen und ich, ich werde die Neue sein... Niemand wird mich kennen... Ich werde alleine sein...Einsam.


Meine Eltern haben, ein Stockwerk tiefer, aufgehört zu schreien. Offensichtlich haben sie sich geeinigt. Ich weiß, dass selbst wenn ich versuche sie zu überzeugen, auch mich hier zu lassen, sie es niemals zu lassen werden. Will wird in einem halben Jahr 18, ich in ein paar Monaten erst 16. Ich rufe Annabelle an und als sie nicht abhebt, schmettere ich mein Handy gegen die Wand. Es fällt krachend zu Boden und nimmt einen Teil vom Putz mit sich. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe nach zu sehen, ob es noch funktioniert. Es ist mir eigentlich auch egal. Ich stehe auf und gehe auf die Tür zu und reiße sie auf , nur um sie dann hinter mir wieder zu zu knallen. Nicht einmal wirklich absichtlich. Eher, weil ich mir keine Mühe gebe leise zu sein.


Offensichtlich hat meine Mutter sich wieder beruhigt denn sie ruft, mit völlig sanfter Stimme, nach mir und meint sie möchten mir etwas wichtiges mitteilen. Ich steige also die Treppe hinunter und als mein Vater etwas sagen will, unterbreche ich ihn noch bevor eine einzige Silbe seinen Mund verlassen kann. " Wann? " Meine Eltern sehen mich nur verwirrt an und meine Mutter fragt "Was wann?" "Wann ziehen wir um?"Offensichtlich hat mein Vater nicht mitbekommen, dass ich schon die ganze Zeit im Haus gewesen bin, denn er fragt: "Woher weißt du-" " Ihr habt so laut geschrien, dass ich, selbst wenn ich taub wäre, euch immer noch gehört hätte." Normalerweise hätten sie mir so eine Aussage nicht durchgehen lassen. Doch nun stehen sie nur da und sehen mich entschuldigend an. "Übermorgen" Eine Männerstimme, doch sie gehört nicht zu meinem Vater.


Ich drehe mich um und sehe wie mein Bruder in der Tür steht. Er kommt auf mich zu und umarmt mich. "Und du kommst nicht mit. " Es war keine Frage, ich wusste die Antwort. Doch zu meiner Überraschung umspielt ein leichtes Grinsen seine Lippen als er mich loslässt und er sagt" Es tut mir Leid, dich entäuschen zu müssen, Schwesterherz" Seine Stimme trieft vor Sarkasmus "Aber du wirst mich so leicht nicht los. Ich bin wie ein Pickel am Hintern." Er unterbricht kurz um unsere Eltern zu begutachten, so als ob er sicher gehen will, ob sie das folgende verkraften werden, und fährt dann fort " Ich hatte sowieso nie vor die Schule zu beenden, aber sie in Amerika nicht zu beenden, ist sowas von die geilste Idee die ihr je hattet."


Kiss the Rain...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt