Kapitel 24

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Ihr Herzschlag verschnellerte sich. Vor ihr stand George (technisch gesehen stand er vor der Terrasse, aber wer interessiert sich schon für solche Details?). Er war es tatsächlich. Sie wusste, dass es George war. Fred war im Fuchsbau und unterhielt sich lachend mit den Gästen, während er einen Arm um Sophia gelegt hatte.

Die reinste Panik brach in ihr aus. Was sollte sie sagen? Die beiden waren vor Monaten im Streit auseinander gegangen und hatten bis zu diesem Zeitpunkt kein einziges Wort gewechselt. Sie wollte es nicht vermasseln. Sie durfte das nicht vermasseln. Nicht noch einmal.

Falls ihr Leben eine Geschichte wäre, dann würde der Leser ihr es nie verzeihen, wenn sie es vermasselte. Wahrscheinlich würde er das Buch zumachen und nie wieder anfassen, wenn sie dies jetzt versaute. Violet könnte es sich selbst auch nie wieder verzeihen.

„George." Ihre Stimme hörte sich brüchig an. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und stellte dabei ihr Glas auf dem Gartentisch neben ihr ab. Sein Name war wie ein Bann, der die Stille zwischen ihnen löste.

„Violet", erwiderte George. Er hörte sich so normal an. Wieso hörte er sich so verdammt nochmal normal an? Konnte er nicht auch eine brüchige Stimme haben wie sie? Dann fühlte sie sich wenigstens nicht so dämlich.

Sie konnte auch seinen Blick nicht deuten. War er immer noch sauer auf sie? Oder freute er sich sie zu sehen? Violet konnte es nicht sagen.

Es herrschte wieder Schweigen zwischen ihnen. Niemand sagte etwas. Sie sahen sich nur an, während Violet hoffte, dass er ihren Herzschlag nicht hören konnte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr das Herz im nächsten Moment aus der Brust springen könnte.

„Ich bin zu spät", sagte er plötzlich und fixierte seinen Blick auf das leere Glas, das auf dem Tisch stand. „Tut mir leid, ich hatte noch etwas Wichtiges zu erledigen. Ich hätte nicht zu spät kommen dürfen."

„Das macht doch nichts", sagte Violet leise. Ihr Blick war immer noch auf George gerichtet. „Ich wurde gut von allen anderen unterhalten."

„Wurdest du das?" George sah sie wieder an, doch Violet konnte seinen Blick immer noch nicht lesen. Nicht einmal seine Haltung verriet etwas darüber, wie er sich fühlte. Zeig doch bitte irgendeine Emotion, George, ich flehe dich an.

„Naja, dein Vater hat viel mit Hermine diskutiert, als ich mich mit ihm über die U-Bahn in New York unterhalten habe", sagte sie und lächelte nervös. „Und deine Mutter hat sich darüber aufgeregt, dass er kein anderes Thema gefunden hatte."

George schnaubte amüsiert. „Natürlich fragt er zuerst nach der U-Bahn", sagte er angespannt. „Wie ist die denn so? Also in New York?"

„Nicht anders als vor fünf Jahren. Laut und immer noch viel zu viele Menschen", sagte Violet. „Aber ich war nicht wegen der U-Bahn in New York."

„Das weiß ich. Ich habe die Artikel gesehen", sagte er. Doch er klang nicht vorwurfsvoll. Entweder das war ein gutes Zeichen oder er hatte über die letzten Monate gelernt, seine Emotionen zu verstecken. Im schlimmsten Fall war es ihm egal, war sie ihm egal.

„George", sagte Violet und sah zu ihren Schuhen, als ob sie das Interessanteste der Welt wären. „Die Artikel sind die Schuld von jemandem, dem ich vertraut habe."

„Mariah", sagte er entschlossen und Violet sah verwirrt auf. „Was?"

„Es war Mariah", sagte er. „Ich habe es heute herausgefunden. Bei Ladenschluss hat sie verdächtige Bemerkungen gemacht und ich bin zum Tagespropheten und habe eine kleine Unterhaltung mit unserer Freundin Rita gehabt. Irgendwann hat sie mit der Sprache rausgerückt."

Violet konnte es nicht glauben. Mariah? Als ob nicht Rolf schon schlimm genug wäre, aber wieso sollte sie sowas tun? Natürlich hatte die Angestellte von Fred und George sie nie leiden können, doch Violet konnte nicht glauben, wie weit die Frau gegangen war.

„Ich hatte noch ein Gespräch mit ihr und deswegen bin ich so spät", sagte George. „Sie wird ab Montag nicht mehr bei uns arbeiten."

„Du hast sie gefeuert?"

George zuckte mit den Schultern. „Ich möchte nicht jemanden beschäftigen, der mit Falschaussagen Geld verdient, verstehst du? Sie hat ihr Gehalt für den Monat bekommen, aber sie wird nicht mehr bei uns eine Arbeit finden." Er schwieg einen Moment. „An wen hast du denn gedacht?"

„Ich- Ich habe jemanden kennengelernt. Auf dem Schiff. Wir haben uns ganz gut verstanden und ich dachte, dass er ein großartiger Freund wäre, aber das war er nicht. Er war es, der das Bild von mir und Oliver an die Presse verkauft hat", sagte sie.

Er schnaubte wieder. „Wow. Da haben wir wohl beide das Vertrauen in die falsche Person gesteckt?"

„Sieht wohl so aus."

Sie schwiegen einander wieder an und Violet dachte fieberhaft darüber nach, was sie sagen sollte. Merlin! Wofür war sie die ganze Nacht wachgeblieben und wieso war das jetzt so kompliziert? Schließlich kannte sie George schon eine Ewigkeit und sie hatte nie Schwierigkeiten gehabt, mit ihm zu sprechen.

Violet konnte wieder das Pochen in ihrer Brust hören. Sie riss sich zusammen und sah auf. „George."

„Ja?" Er sah ihr direkt in die Augen. Sie schaffte das.

„Es tut mir leid", sagte sie. „Für alles. Ich hätte nicht gehen sollen. Jedenfalls nicht ohne mit dir darüber zu reden. Ich hätte auch einen Tag später zusagen können. Newt und Retsbol haben mir beide Bedenkzeit versichert, aber ich war so egoistisch und habe sofort angenommen, weil ich Angst hatte, dass diese Chance mir sofort wieder entrissen werden könnte. Ich-"

„Violet." George machte einen Schritt auf sie zu, doch Violet hörte nicht auf zu reden.

„Ich hätte das nicht tun sollen und ich habe es jeden Tag bereut."

„Violet-" Noch ein Schritt, aber sie ließ sich nicht abbringen, ihre Entschuldigung zu beenden.

„Von der Sekunde ab der wir abgefahren sind bis zu dem Tag an dem wir wieder in Bristol angekommen sind. Ich- Wenn ich in der Zeit zurückgehen könnte, dann würde ich es. Dann würde ich es machen-"

„Violet."

„Dann wäre ich vielleicht gar nicht gefahren. Ich-"

„Violet." Georges Ton war nun fester und er war beinahe bei ihr angelangt. Sie hatte kaum gemerkt, dass er ihr immer näher gekommen war. Doch was wichtiger war: Sie schwieg endlich.

„Violet, ich muss mich entschuldigen", sagte George ruhig. „Ich hätte dich nicht so anfahren sollen. Ich hätte mich für dich freuen sollen. Ich war nur durch den Wind, weil ich den Abend anders geplant hatte."

Mit dem letzten Schritt überbrückte er die letzte Distanz zwischen ihnen und nahm ihre Hände in seine. „Ich will nicht, dass du wegen mir deine Träume aufgibst, Violet. Von mir aus kannst du nach New York oder nach Indien gehen oder nach Australien. Von mir aus auch zum Mond. Wenn es dich glücklich macht. Dann bin ich auch glücklich."

„George, ich will doch nicht fort", sagte sie. „Natürlich habe ich den Wunsch, die Welt zu sehen und zu forschen, aber ich will mir am Ende des Tages sicher sein, dass ich zu dir zurückkehre. George, ich bin glücklich, wenn du bei mir bist."

Es war getan. Sie hatte ihm ihre Gefühle offenbart und nun war es an ihm, zu entscheiden, wie er handelte. Sie hatte nun tatsächlich alles in ihrer Macht Stehende getan.

Doch George sagte nichts. Er sah sie nur an, als seine Hand an ihre Wange wanderte und er sie küsste.

Es war wie damals, in der Eulerei, als sie beide noch verknallte Teenager gewesen waren und nicht wussten, wie man wirklich mit Gefühlen umging und sie trotzdem von ihnen überhäuft waren.

Es fühlte sich genau so an. Wie eine warme Briese die Violet durchflutete, wie als würden ihre Blutbahnen auf Hochtouren laufen und gleichzeitig sie ein angenehmes Ziehen in ihr spürte.

Dieses Gefühl. Sie hatte es so sehr vermisst.

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