6. Finn - 10 Prozent

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„Ich dachte, sie wären Autor?", fragte Dr. Ludwig und schien gerade leicht verwirrt zu sein. Konnte ich verstehen, dieses Phänomen wurde uns schon des Öfteren bescheinigt. Egal, wo wir auftauchten, herrschte urplötzlich das Chaos. Meist konnten wir nicht einmal was dafür. Ganz ehrlich! Also fast ... versprochen!

„Ja, bin ich!", versuchte ich etwas Licht in seine Verwirrtheit zu bringen. Wäre schade, wenn er durch sein permanentes Stirnrunzeln Falten bekommen würde. Wirklich mehr als nur schade, bei diesem hübschen Gesicht.

„Sie sagten doch, sie seien Psychologe?!" Immer noch prangerte ein fettes Fragezeichen in seinem Gesicht. Das macht ihn nicht gerade attraktiver, sollte ihm unbedingt mal jemand sagen.

„Ja, aber ich praktiziere nicht! Ich schreibe!", stellte ich klar. Immerhin war Schreiben mein Leben und die Psychologie nur das seriöse Standbein, welches sich meine Eltern gewünscht hatten. Wobei, ich brauchte mich wirklich nicht zu beschweren. Es hatte mir überaus Spaß gemacht und brachte hin und wieder den ein oder anderen Vorteil.

„Ja, Schundromane, die er mit meinen Eroberungen ausschmückt! Statt sich selbst mal auf Abenteuer einzulassen. Aber nein, er holt sich lieber irgendwelche hirnverbrannten Psychos ins Leben, die ihn dann an den Rand bringen!", spie Arne sein Feuer.

Mein Bruder, mein allerliebster Bruder! Ab und an konnte ich ihm doch glatt den Kopf abreißen. Ich wusste, was ich tat. Zu mindestens zu neunzig Prozent, und die mickrigen zehn Prozent waren eben Risiko.

Gerade ich als Psychologe wusste, dass jeder von uns einen an der Klatsche hatte, nicht nur ich. Die einen verletzten sich innerlich, ließen sich von ihren Mitmenschen, von der Familie, von den Liebsten unterbuttern, fertig machen, richtig klein halten. Andere heulten rum, suhlten sich im Mitleid. Wiederum andere wurden gefühlskalt, ignorant, selbst Tyrannen. Und ich? Ich brauchte halt hin und wieder ein paar Tabletten, Alkohol und Schmerz, um diese Welt zu ertragen. Jeder wie er mochte, oder? Hauptsache man stand am nächsten Morgen wieder auf, richtete sich die Krone und schwang sich erneut aufs Pferd. Solange man das auf die Reihe bekam, war alles in bester Ordnung. Ein echtes Problem hatte man erst, wenn man den Kopf in den Sand steckte und aus dem tiefen Loch, das man sich, in den meisten Fällen, selbst geschaufelt hatte, nicht mehr hinauskam.

So viel Kontrolle, oder besser gesagt Selbstkontrolle, besaß ich. Ich hatte nie vor, mein Leben vorzeitig zu beenden. Sollte das einmal passieren, dann wäre es ein reiner Unfall. Immerhin war ich so sentimental veranlagt, dass ich tatsächlich daran hing. Außerhalb dieser abgefuckten zehn Prozent, in denen ich dazu neigte, die Kontrolle zu verlieren, ging es mir wirklich gut. Meine Werke verkaufen sich wie warme Semmeln. Ich hatte ein tolles Haus, zusätzlich ein tolles Apartment, Autos und weiteres Spielzeug, was einem das Dasein auf dieser Erde recht angenehm gestaltete. Und wenn er nicht gerade meckerte und mir damit gewaltig auf die Eier ging, den tollsten Bruder auf der ganzen Welt.

Das war mehr, als manch andere zu bieten hatten, was mir durchaus bewusst war und wofür ich tagtäglich dankbar war. Das sollte ich auch schleunigst dem hübschen Arzt verklickern, damit er diese irrsinnige Idee, ich könnte selbst einen Psychologen brauchen, ad acta legte, schließlich war ich, bis auf ein paar kleine Eskapaden, völlig gesund. Konnte mir das sogar selbst bescheinigen, wenn es sein musste.

„Sweetheart. Geh und hol dir einen Kaffee mit viel, viel Zucker! Du bist eindeutig unterzuckert! Ich kläre das mit dem hübschen Doktor alleine!", flötete ich zuckersüß meinem Bruder zu und hoffte, dass er wenigstens einmal im Leben wortlos von dannen zog. Schlechte Idee, denn sein Blick verfinsterte sich erneut und seine Augen sprühten geradezu. Ich hatte aber doch gar nicht ahnen können, dass er sich gerade mit dem Kevin Klein Model vergnügte, den wir auf einer Gala vor ein paar Wochen kennengelernt hatten. Schließlich hatte ihn dieser unglaublich attraktive und dumme Kerl abblitzen lassen. Aber eigentlich hätte ich es mir denken können, niemand bei klarem Verstand ließ Arne abblitzen. Das gab es einfach nicht, nicht in diesem Universum. Denn egal welchen Kerl sich Arne einbildete, er bekam ihn auch.

Ich selbst war ja auch nicht gerade von schlechten Eltern, von denselben, um genau zu sein. Aber leider hatte ich die Statur von meiner Ma geerbt und konnte trainieren wie blöd, ich blieb einfach nur drahtig. Arne hatte da mehr von Pa. Breite Schultern, perfektes V, das in schmale Hüften mündete. Hach ... ja, ich war neidisch! Aber mal ehrlich, wer wollte den nicht perfekt aussehen? Vor allem, wenn man dazu noch ständig mit seinem älteren Bruder verglichen wurde. Und wer das Gegenteil behauptete, der log.

„Schau mich nicht so an! Es tut mir leid wegen dem Model, wirklich!", versicherte ich ihm ehrlich. „Du kannst auch wieder fahren, er ist bestimmt noch da ...", versuchte ich sein Gemüt zu beruhigen. Immerhin hatte ich das ja wirklich nicht gewollt und hätte ich was ändern können, hätte ich es durchaus auch getan.

„Ich fahr doch nicht mehr raus! Es gibt Leute, die haben geregelte Arbeitszeiten." Gleichzeitig warf er einen kurzen Blick auf seine Deepsea von Rolex, mit ihrem wunderschönen blauen Zifferblatt, das den gleichen Farbverlauf hatte, wie seine Augen, wenn sie sich wie vorhin verfinsterten. Ich musste es ja wissen, schließlich hatte ich sie ihm geschenkt, deswegen und weil sie eine Hommage an J. Cameron war und wir den beide mochten. „Deinetwegen hab ich sogar den Tageseinkauf an eine der Kröten übergeben müssen. Wenn es blöd läuft, darf ich erneut Essen servieren, dass nach Socken schmeckt!"

Da mir der Doktor über aus gefiel, hatte ich ihn während der ganzen Triade nicht aus den Augen gelassen und sein Zusammenzucken sofort bemerkt. Fast tat er mir leid, aber nur fast und ein klein wenig amüsierte es mich auch.

„Wie oft soll ich mich denn noch entschuldigen?", platze es aus Dr. Ludwig heraus und er fuhr sich durchs Haar, nur um es dabei ganz schön durcheinanderzubringen. Aber so what! Die out of bed Frisur stand ihm nur zu gut. In meinem nächsten Roman brauchte ich auch so einen Dr. Hot.

„Ich hatte einen ganz bescheidenen Tag und dann wurde ich auch noch gezwungen, dort essen zu gehen!" Riss er mich aus den Gedanken, während meine Phantasie bereits mit mir durch ging, und quasselte sich um Kopf und Kragen. Ich kannte Arne. Der würde sich auf jede Vorlage, egal wie klein, stürzen und diese hier war definitiv nicht klein. Armer Doktor ...

„Jetzt wird man auch schon gezwungen, in einem Sterne Restaurant zu essen! Du Ärmster!", spottete, wie vorhergesagt, mein Bruder. Er war sonst eigentlich gar nicht so. Also nicht immer. Aber gerade so unterzuckert und untervögelt, das schlug nun mal auf sein sonst nicht gar so biestiges Gemüt.

„So hab ich das doch gar nicht gemeint! Das war einfach ..."

„Lass gut sein, Dr. Hot!" Oh ja, das gefiel mir, meine Finger begannen zu jucken. Ich brauchte ganz dringend meinen Laptop, konnte es gar nicht abwarten endlich loszulegen. „Egal, was du sagst, es wird nur schlimmer!", versprach ich ihm und hoffte, dass er nicht so dumm war, es erneut zu riskieren.

„So ihr zwei, ihr hört jetzt gefälligst auf euch zu streiten. Dann kann mich der liebe Onkel Doktor entlassen. Ein neues Buch brennt darauf, geschrieben zu werden, und zwar am besten heute noch." Ich schwang meine Füße aus dem Bett und erhob mich. Ruckartig wurde alles schwarz und ich sank in die Knie.

„Huch ...", augenblicklich spürte ich starke Hände an meinen Oberarmen, die mich wieder in die Höhe zwangen. Ich blinzelte, versuchte das Rauschen in meinen Ohren zu ignorieren. „Alles gut!", versicherte ich meinen Rettern, die mir zur Hilfe geeilt waren, „Nichts, was ein bisschen Koffein nicht wieder richten könnte". Statt mich zu setzten, was die beiden eigentlich mit mir vor hatten, blieb ich stehen und schüttelte sie ab. Ich war ein erwachsener Mann und ließ mich doch von einem kleinen Schwächeanfall nicht aus der Ruhe bringen. Ein reichhaltiges Frühstück, ein riesiger Pott Kaffee, mein Laptop und die Welt wäre wieder himmelblau.

„Die Formulare für meine Entlassung, bitte!", bat ich Michael und erntete dafür fassungslose Blicke. Den beiden hätte vielleicht einer sagen sollen, wie ähnlich sie sich gerade sahen. Aber dieser jemand war nicht ich, denn ich wollte endlich hier raus, hatte die Gastfreundschaft des Krankenhauses schon deutlich überstrapaziert.

Mr. Unverbesserlich (Mr. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt