11. Michael - neuer Tag, neues Glück

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„Ich werde nett sein. Ich werde ihm eine Chance geben. Das gestern war falsch und gar nicht meine Art mit Patienten umzugehen.", betete ich mir mental vor, während ich die Treppen zu dem Apartment der beiden Brüder hochstieg. „Ich kann das besser. Ich muss nur den Willen dazu aufbringen. Es war, wie mit einem kleinen Kind. Lediglich ein wenig Konsequenz und Führung, dann könnte man diesen Aufenthalt vielleicht noch zum Guten wenden."

Heute war ein neuer Tag. „Einer von vielen!", meldetet sich da das Teufelchen auf meiner Schulter, was ich ganz schnell zu ignorieren wusste. Schließlich hatte ich mich an die Tatsache, hier als Nanny abgestellt worden zu sein, gewöhnt und es gab keine Entschuldigung mehr, mich wie ein garstiges Kind aufzuführen. Ich war verdammt nochmal ein Profi und erwachsen! Der zuvorkommende und nette Umgang mit meinen Patienten war mir wichtig und war eigentlich eins der Dinge, die mir sehr leicht fielen. Dann war es doch gar nicht so schwer, hierbei auch cool zu bleiben und sich zusätzlich so zu benehmen. Es handelte sich bei dieser Situation immerhin, um eine begrenzte Zeit und die würde ich aussitzen, sogar mit links überstehen. Hach ... mein Optimismus lief gerade auf Hochtouren, auch wenn die andren meiner innerlichen Regungen diese Meinung noch nicht gänzlich teilten.

Im Stockwerk über mir ging eine Tür auf und fiel kurz darauf wieder in Schloss, was mich ganz automatisch hochsehen ließ. Da die beiden das Dachgeschoss bewohnten und ich mich bereits im letzten Absatz dorthin befand, konnte es sich eigentlich nur um einen der Brüder handeln. Vorausgesetzt, sie hatten keinen Besuch empfangen. Und in der Tat, keinen Augenblick später, stiefelte Arne mir entgegen. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend erschien er mir wie jemand auf der Flucht.

„Er gehört dir, Tiger!", begrüßte er mich, während er ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten, an mir vorbeiraste. „Na, das fing ja schon mal super an!", meldete sich sogleich das schlechtgelaunte Teufelchen in mir und stichelte.

„Dir auch einen wunderschönen Tag!", rief ich ihm genervt nach und unterdrückte die aufsteigende Wut. Wieso trieben mich diese zwei Jungs so leicht in den Wahnsinn? Eine winzig kleine Geste, egal von welchem der beiden und ich hatte mich nicht mehr im Griff. Das konnte doch gar nicht normal sein.

Vielleicht war ich einfach überarbeitet? Brauchte Urlaub? Einen Kerl? Oder alles zusammen? Ja, das würde mir mit Sicherheit guttun. Nach der Sache mit Johannes brauchte ich einfach nur eine Auszeit. Um das Ungleichgewicht, welches in mir drin herrschte, wieder gerade zu biegen. Da auf andere Gedanken zu kommen würde ganz und gar nicht schaden.

Oben angekommen klopfte ich widerwillig an der Tür und verfluchte mich dafür, meine Vorsätze bereits vor meinem Betreten der Wohnung über Bord geworfen zu haben. So konnte das doch gar nichts werden. Also schloss ich kurz die Augen und atmete tief durch. Ein klein wenig herunterkommen konnte nicht schaden, wenn ich meinen Plan noch halbwegs in die Tat umsetzen wollte.

„Soll ich dich wachküssen, Doc?", erklang Finns Stimme zuckersüß, nachdem die Tür geöffnet wurde. Ich ließ die Augen vorsorglich geschlossen, zählte innerlich sogar bis zehn. Ich war ein guter Arzt. Ich war ein guter Arzt. Ich war ... scheiße ... weiche Lippen legten sich auf meine, sanft und federnd wie Schmetterlingsflügel und ich riss erschrocken die Augen auf. Was zur Hölle ...?

Schelmisch und selbstzufrieden grinsend rückte Finn ein Stück ab und lehnte sich an den Türrahmen.

„Sieh an, unser Dornröschen ist aus dem Schlaf erwacht!" Sein Blick ruhte interessiert auf mir. Wie eine Raubkatze wartete er darauf, wie ich nun reagieren würde. Das hier war ein Spiel. Für den Jüngern bestand scheinbar alles im Leben aus einem Spiel. Also schluckte ich, schluckte, alles was ich ihm an den Kopf werfen wollte runter und atmete erneut tief durch.

„Wollen wir hier Wurzeln schlagen, oder bittest du mich endlich mal hinein?", säuselte ich mit meiner liebsten Sonntagsschulen Stimme und bekam es sogar hin zulächeln, ohne das es aussah, als wäre ich zum hungrigen Haifisch mutiert. So hoffte ich zumindest.

„Wieso? Bist du ein Vampir? Oder warum muss ich bitten?", wollte er lässig grinsend von mir wissen und verschränkte die Arme vor der Brust. Mr. Psychologe/Autor flirtete eindeutig mit mir. Dem sollte ganz schnell jemand mal die Luft aus den Segeln nehmen und da sich aktuell niemand außer mir hier befand, fiel wohl diese überaus wichtige Aufgabe mir zuteil.

„Wieso?", raunte ich ihm vorbeugend zu. Spiele spielen konnte ich auch. „Möchtest du etwa von mir gebissen werden?", grinste ich ihn, nun nur Zentimeter von ihm entfernt, an. Jetzt war es an ihm, überrascht zu sein, doch ich hatte mich zu früh gefreut, denn seine Mundwinkel zuckten und wurden breiter. Ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, schien gerade eindeutig nach hinten loszugehen.

„Du darfst mich beißen, wo immer du willst, Doc!", hauchte er und wollte auch die letzten Zentimeter überbrücken. Doch diesmal war ich darauf gefasst und konnte folglich rechtzeitig reagieren. Also riss ich meine Arzttasche in die Höhe und drückte sie gegen seine Brust. Von meiner Aktion überrumpelt, griff er ganz automatisch nach der Tasche, um sie ja nicht fallen zu lassen. Gut so, das hätte teuer werden können, aber das Geld spielte bei ihm ja keine Rolle.

„Halt mal!", bat ich überflüssigerweise und marschierte an ihm vorbei zu Garderobe. Hey, es handelte sich lediglich um acht Stunden, bei meinem Glück mittlerweile nur noch um sieben dreiviertel. Das Kind würde ich schon schaukeln. Irgendwie ...

„Als Erstes werde ich die Verbände wechseln, anschließend Blutdruck messen.", klärte ich ihn auf, während ich noch dabei war, mich aus meinem Mantel zu schälen. „Bring die Tasche schon mal zum Sofa, dann können wir gleich anfangen.", machte ich weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. Solange ich ihn mundtot hielt, konnte es nur besser werden. Und tatsächlich dackelte er wortlos an mir vorbei zum Sofa. Hach, war das schön, wenn einem die Leute wieder gehorchten. So Sturköpfe musste ich eigentlich eher selten behandeln. Und solch Kaliber erst recht.

„Also ...", ich war zu ihm getreten und öffnete meine Tasche, um an die benötigten Utensilien zu kommen.

„Du willst also tatsächlich Doktorspielchen machen?"

Genervt hob ich den Blick. Zählen würde jetzt auch nichts mehr bringen, auch nicht bis hundert.

„Schon gut!", hob Finn abwehrend die Hände. „Ja, der war mehr als flach! Den nehme ich freiwillig zurück!" Und streckte mir die Hände entgegen, weil ich bereits dabei war, die neuen Verbände auszubreiten.

„Aber sag mal, wieso bist du so abweisend zu mir? Ich hab doch alles versucht. Ich war nett, ich hab versucht, dich zu necken oder zum Lachen zu bringen. Aber ich beiß da immer wieder auf Stein, derweil hab ich dir doch eigentlich gar nichts getan ...", nun klang mein Patient tatsächlich traurig. „Im Krankenhaus warst du doch noch ganz anders zu mir ..."

Mr. Unverbesserlich (Mr. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt