20. Michael - kleine Zecke

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"Na, ihr beiden?!", begrüßte ich die Geschwister, kaum, dass ich über die Türschwelle trat. „Wo brennt es denn?"

Finn brauchte nicht lange zu bitten, da saß ich schon im Auto auf dem Weg hier her. Am Telefon wollte er nichts verraten, aber seiner Stimme konnte ich seinen Frust seht deutlich entnehmen. Was wohl jetzt schon wieder schief gelaufen war?

Auch wenn es immer so aussah, als würde es sich bei diesen Zwischenfällen, die Finn betrafen, um Kleinigkeiten handeln. Aber für ihn waren es jedes Mal ausgewachsene Katastrophen, mit denen er im ersten Augenblick nicht umzugehen wusste. Wenn er sich erst einmal beruhigt hatte, vielleicht sogar konkret nachdachte, dann sah die Welt auch gar nicht mehr so schwarz aus. Nur bis dieses Level erreicht wurde, war meist ein langer Weg.

Finn erhob sich von Sofa und fiel mir regelrecht um den Hals.

„Ich bin erledigt!", seufzte er niedergeschlagen und drückte mich noch kräftiger. „ERLEDIGT!"

„Finn ...", ertönte es streng hinter ihm. „Wenn du so weiter machst, bringst du den Doktor um! Dann kann er dir auch nicht mehr helfen!", schimpfte Arne mit Finn. „Hi!", zwinkerte er mir grinsend zu, so dass nur ich es sehen konnte. Augenblicklich tanzten kleine Ameisen Samba in meinem Magen. Man, man, das war ja mal gar nicht gut! Diese nächtlichen Begegnungen mit ihm stiegen mir gewaltig zu Kopf, wobei Herz traff es wohl eher.

„Hi!", grüßte ich gespielt krächzend, unter die Last auf mir zurück und hob kurz die Hand.

„Er ist stabil!", nuschelte Finn gegen meinen Hals, statt mich loszulassen. „Warum muss ich immer Recht haben ...", entwich es folgenschwer meinem Patienten und er ließ sich regelrecht an mir hängen.

Scheinbar handelte es sich tatsächlich um ein ausgewachsenes Drama, zu dem ich hier geordert wurde. So niedergeschlagen wie der arme jüngere Bruder wirkte.

„Du und immer Recht haben?! Jetzt übertreibst du aber!", konterte Arne und ging an mir vorbei zur Garderobe. „Sorry, ich muss leider schon los!", murmelte er mit einem scheinbar schlechten Gewissen an mich und ich spürte die aufkeimende Enttäuschung irgendwo in der Magengegend. Ich hatte mich schon total gefreut, Arne heute schon früher und vielleicht auch länger zu sehen. Aber so konnte man sich täuschen.

„Langsam hab ich das Gefühl, du verlässt das Haus fluchtartig, sobald ich eintreffe! Muss ich mir Sorgen machen?", wollte ich weniger ernsthaft wissen, während ich versuchte, Finn von mir runter zu bekommen. Doch dieser klebte wie eine Zecke an mir.

„Was?", fuhr Arne überrascht in die Höhe. „Nein, gar nicht!", versicherte er mir und die Ameisen nahmen wieder überhand! „Ich fange aktuell einfach von Haus aus schon viel später an, um bis du kommst, bei dieser Klette zu sein!", erklärte er, griff Finn an den Armen und entfernte die kleine Zecke fachgerecht von meinem Hals.

„Na, dann ist ja gut! Lass dich nicht ärgern!", verabschiedete ich Arne, der mit einem Winken durch die Tür verschwand. Währenddessen ließ sich Finn niedergeschlagen auf das Sofa nieder.

„Was ist los?", wollte ich erneut wissen und setzt mich erstmal zu ihm. Wieder ließ er sich an mich sinken und legte mir den Kopf auf die Schulter. Da war aber heute einer zuneigungsbedürftig, also nahm ich ihn in den Arm und streichelte ihm beruhigend über den Rücken.

„Er ist ein Fan!", seufzte Finn nach einer gefühlten Ewigkeit und kuschelte sich noch näher an mich heran.

„Wer ist ein Fan?", wollte ich wissen und war über so viel Nähe doch etwas überrascht. Es fühlte sich jetzt nicht schlecht an, aber schon etwas komisch. Wobei ich nicht das Gefühl hatte, dass er durch sein aktuelles Verhalten auf mehr zwischen uns hoffen würde.

„Na, mein Lektor! Er ist nicht nur jung und unerfahren, er ist auch noch scheinbar ein großer Fan."

„Und das ist schlecht, weil?", fragte ich nach, weil mir das Problem bei dieser Sache noch nicht ganz einleuchten wollte.

„Er bewertet meine Texte, wie ein treuer Fan. Egal, was ich schreibe, er lobt es in den Himmel, obwohl es wirklich schlecht ist!", klärte er mich niedergeschlagen auf. „Was soll ich jetzt bloß tun? Ich kann ihm doch auch nicht einfach den Kopf abreißen!", fügt er noch sehr ernst an und brachte mich damit zum Lachen.

„Sorry ...", klopf ich ihm sachte auf den Rücken. „Aber nein, das kannst du wohl wirklich nicht! Hast du schon mit ihm gesprochen?"

„Nur E-Mails ..."

„Und wenn du dich mal mit ihm zusammen setzt und das von Angesicht zu Angesicht klärst? Vielleicht kann er sich bessern.", schlug ich vor, auch weil mir nichts Besseres einfiel. Das war aber auch wirklich eine verworrene Situation. Ich war mir auch nicht sicher, ob man da mit einem Gespräch weiter kommen würde. Schließlich konnte der junge Mann sicherlich auch nicht aus seiner Haut. Wenn es ihm gefiel, dann konnte er nun mal nicht neutral bewerten.

„Das bringt doch nichts ...!" Teilte scheinbar auch Finn meine Meinung. „Er ist befangen. Und zwar total. Denn das letzte Kapitel, was ich ihm geschickt hatte, war absichtlich schlecht. So wirklich, richtig schlecht! Und er war immer noch Feuer und Flamme! Mit so jemanden kann ich nicht arbeiten!"

Was seine Arbeit anging, schien Finn wohl sehr realistisch zu sein und nicht in Wunschdenken zu verfallen. Fand ich gar nicht mal so schlecht, sonst würde ihn so einiges noch mehr herunter ziehen, als es jetzt schon tat.

„Hm ... schwierig! Und wenn du mit dem Verleger sprichst, damit dir ein neuer Lektor zugewiesen wird?!", warf ich in den Raum und hoffte mit diesem Vorschlag besser zu fahren, vor allem, weil mir sonst wirklich nichts mehr Besseres einfiel. Außer vielleicht den Verlag komplett zu wechseln, aber da kannte ich mich nicht wirklich aus. Wusste nicht, ob Finn einfach so aussteigen konnte, oder ob er sogar an Verträge gebunden war.

„Hmm ...", machte er und schien sich meine Worte durch den Kopf gehen zu lassen. „Ja, vielleicht sollte ich das mal versuchen! Weil so, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben."

„Na, das klappt bestimmt!", sagte ich zuversichtlich. „Sag mal, was schreibst du aktuell? Darf ich da mal was lesen?"

Augenblicklich versteifte sich Finn in meinen Armen.

„Emm ... ich denke nicht!" Löste sich aus der Umarmung und rückte ein Stück ab.

„Und wieso?", wollte ich jetzt erst recht wissen. Meine Neugier war geweckt, zumal Finn rot anlief und unruhig auf seinem Platz hin und her rutschte.

„Ach. Das würde dich bestimmt nur langweilen!", wiegelte er ab und erhob sich sogar vom Sofa. Ich wurde stutzig. Wieso machte er so ein Geheimnis daraus, schließlich hatte ich schon Bücher von ihm gelesen, mir war durch aus nicht neu, was er schrieb.

„Nein, gar nicht!", verneinte ich und erhob mich ebenfalls. „Du weißt doch, das ich deine Geschichten mag."

„Machen wir es so!", schlug er plötzlich vor, nach dem er sich, wohl vor Nervosität sämtliche Fingernägel abgekaut hatte. „Wenn es fertig ist und in Druck, dann bekommst du als Erstes ein Exemplar."

Ein ungutes Gefühl beschlich mich. Irgendwas durfte ich scheinbar so lange nicht erfahren, bis das Buch in Druck war. Aber so, wie ich ihn mittlerweile kennen gelernt hatte, würde er es mir auch gar nicht vorher verraten. Also beschloss ich, es erst einmal auf sich beruhen zu lassen.

Mr. Unverbesserlich (Mr. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt