23. Finn - Schneesturm

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„Spinnt er vielleicht?", wiederholte der Doktor zum hundertsten Mal fluchend, während er aus dem Fenster sah und anschließend nervös hin und her tigerte.

Stunden waren nach Arnes Abgang vergangen und mit jeder Weiteren wurde Michael nervöser. Zuerst hatte ich ihm noch widersprochen und Mut zugesprochen, aber seit der Schneesturm so zugelegt hatte, dass man die Hand vor Augen nicht mehr sah, saß auch ich, wie auf heißen Kohlen, auf dem Sofa und machte mir Sorgen um meinen bescheuerten, großen Bruder.

Ich hatte wirklich gedacht, er wollte nur kurz Luft schnappen und dann wäre er hier wieder aufgetaucht. Wieder beruhigt und rational denkend, dann hätte ich ihm alles in aller Seelenruhe erklärt und gut wäre. Aber er kam und kam einfach nicht. Hoffentlich war ihm tatsächlich nichts passiert, wie Michael schon befürchtete. Wäre dem so, würde ich ihn mit eigenen Händen umbringen.

„Wo ist er bloß ..." Die Wut, die noch zuvor in seiner Stimme mitschwang, schien verpufft zu sein. Niedergeschlagen lehnte er seinen Kopf an die kühle Scheibe und versuchte scheinbar verzweifelt draußen etwas zu erkennen.

Das schlechte Gewissen hingegen nagte förmlich an mir. Wenn ihm heute etwas zustoßen würde, dann wäre es allein meine Schuld. Wieso hatte ich nichts gesagt? Wieso nur? Aber die Situation war so schnell eskaliert, dass ich, wenn ich ehrlich war, zuerst gar nicht kapiert hatte, was mit ihm los war. Erst nach dem er davon gerauscht war und der Doc ihm sehnsüchtig nachgestarrt hatte, erst da hab ich wirklich realisiert, was hier lief. Und trotzdem beruhigte das nicht mein Gewissen. Denn hätte ich mich gestern zusammen gerissen und nicht Michaels früheren Abgang dazu genutzt Tim anzurufen, hätte Arne uns mit Sicherheit nicht gehört und heut morgen die falschen Schlüsse gezogen.

„Da ist er ...", riss er mich aus den Gedanken. Überrascht und erleichtert zu gleich sah ich hoch. Michael drückte sich gerade an der Scheibe die Nase platt, um scheinbar etwas ganz genau zu erkennen.

„Er torkelt, aber er scheint heil zu sein!", seufzte er nun erleichtert, ließ Arne dabei aber scheinbar keine Sekunde aus den Augen.

„Oh, ok!" Nun sprang auch ich vom Sofa auf und ging zu ihm hinüber, um ebenfalls aus dem Fenster zu sehen, aber da gab es schon nichts mehr zu sehen. Arne schien bereits im Hausgang verschwunden zu sein.

„Er kommt hoch ...", sagte der Doktor und wurde wieder nervös. Unruhig fing er an hin und her zu laufen und kaute dabei sogar an seinen Fingernägeln. So hatte ich ihn noch nie erlebt, dem musste mein Bruder sichtlich nahe gehen.

Draußen im Flur kündigten scheppernde Geräusche Arne an und Michael vor mir hielt in seinem Schritt inne.

„Lässt du uns bitte allein? Ich würde das gerne selbst mit ihm klären.", bat er und ich nickte. Diesen Wunsch konnte ich gewiss nicht ausschlagen, außerdem hatte ich schon genug Mist verbrochen. Ich hoffte nur, dass sie sich endlich nach einem klärenden Gespräch in den Armen liegen würden.

Von draußen hörte man, dass jemand, in diesem Fall wohl Arne, versuchte, die Tür zu öffnen. Und ich ahnte Schreckliches. Hatte Michael nicht erwähnt, dass mein Bruder getorkelt sei? Und jetzt bekam er kaum die Tür auf? So abgeschossen hatte er sich zuletzt nach dem Tod unserer Eltern. Das konnte nichts Gutes werden. Also tat ich nicht ganz wie mir geheißen, sondern ließ einen Spalt meiner Tür offen und beobachtete die Szenerie.

Michaels Geduldsfaden schien gerissen zu sein, denn nun stürmte er an die Tür und riss sie auf. Im selben Augenblick fiel ihm ein sichtlich betrunkener Arne entgegen.

„Was zur Hölle?", schnaubte der Arzt. „Hat man dich in einem Bierfass gebadet?", schimpfte er weiter und versuchte meinen Bruder, der nun wie ein Sack um seinen Hals hing, wieder etwas aufzurichten. Mit Mühe gelang es ihm und Arne stand wieder auf seinen eigenen Füßen. Mehr schlecht als recht, aber er stand.

Mr. Unverbesserlich (Mr. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt