19. Finn - Unprofessionell

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„Arne!!!", schrie ich mir die Seele aus dem Leib und starrte fassungslos auf den Bildschirm. Ich hatte es ja bereits geahnt, nun musste ich auch noch Recht behalten. Wieso nur? Dieses Mal hätte ich es mir wirklich sparen können. Aber nein! Was machte ich jetzt bloß? Die Scheiße stand mir sinnbildlich bis zum Hals!

„Arne ... Komm doch!", rief ich erneut aus vollem Hals, weil mein Bruder, warum auch immer, nicht in die Puschen kam.

„Was ist passiert?" Schlitterte kurze Zeit später ein Tropfnasser, nur mit einem Handtuch um die Hüften gewickelter Arne keuchend in mein Zimmer. Ich schien ihn wohl aus der Dusche geschrien zu haben. Ups ... Jetzt tat mir mein emotionaler Ausbruch fast schon etwas leid. Ich hätte auch noch ein paar Minuten länger warten können, das hätte mich jetzt auch nicht umgebracht. Aber nun war das Kind ja schon in den Brunnen gefallen und mein liebster Prinz in strahlender Rüstung da.

„Sieh dir das doch einmal an!" Deutete ich demonstrativ auf den Bildschirm, auf dem die, also ‚DIE' E-Mail geöffnet war. Nun, wo er eh schon hier war, konnte er sich diese ja auch gleich mal ansehen. Und da ich den besten Bruder der Welt hatte, beugte er sich über mich und fing tatsächlich wortlos an zu lesen, statt mir den Kopf abzureißen.

„Du tropfst ...", stellte ich fest, weil er nichts sagte, obwohl er mit den wenigen Zeilen schon längst fertig sein müsste.

„Kann schon mal passieren ...", bekam ich trocken zur Antwort. Er sagte nichts. Wieso sagte er nichts? War es denn nicht total offensichtlich?

„Arne ...!!!!", quengelte ich, weil ich es nicht mehr aushielt. Der konnte doch nicht ‚DIE' E-Mail lesen und dann absolut gar nichts dazu sagen.

„Das klingt doch super ...", versuchte er es vorsichtig und ich ließ meinen Kopf auf die Tischplatte knallen. Vielleicht etwas zu euphorisch, denn es knallte gewaltig und mir wurde sogar kurz schwarz vor Augen.

„Hey, sag mal spinnst du!", riss mich mein Bruder in die Höhe und musterte mich wirklich böse. „Was passt dir denn nicht! Der Kerl lobt dein neues Kapitel in die Höhe! Was willst du mehr?"

Ich schwieg. Rubbelte mit dem Handballen über meine schmerzende Stirn, aber schwieg.

„In diesem Kapitel haben sie sich selbst übertroffen. Ihr Ausdruck ist stark und lebendig.", zitierte mein Bruder Passagen aus der Mail und ich nickte. Ja, das klag alles sehr gut. Dann klickte ich auf das Textdokument und vor uns erschien, eben jenes Kapitel, das so ausdrucksstark und lebendig war. Wortlos begann Arne zu lesen.

„Okay ..." Er zog sich einen Stuhl ran und setzte sich neben mich. „Es war schlecht.", fügte er nach einer Weile des Lesens treffend hinzu. Er war schon immer ehrlich mit mir gewesen, nahm nie ein Blatt vor den Mund und dafür war ich ihm wirklich dankbar. Ich brauchte keinen Bruder, der lediglich mein Ego streichelte.

„Jep!", bestätigte ich.

„Beabsichtigt schlecht!?", fragte er nach und ich nickte. Schon bei den letzten Kapiteln, hatte ich eher das Gefühl, ein Fan würde hier meine Arbeiten bewerten, statt eines Lektors und da kam mir die Idee ein Kapitel so richtig zu verhunzen. Dann musste er doch aufwachen und mir doch noch Konter geben. Aber nein, er lobte mich weiter in den Himmel. Hatte seine Chance endgültig vertan! Ich brauchte niemanden, der mir schmeichelt. Dass ich gut war, wusste ich auch selbst. Aber ich wollte herausragend sein! Und das schaffte ich nur, wenn man mir in den Arsch trat. Wenn man mich so lange nervte und in den Wahnsinn trieb, bis ich es auch tatsächlich schaffte.

„Und jetzt?", riss mich mein Sweetheart aus den Gedanken und strich sich das tropfende Haar zurück. Ihm war sicherlich kalt, trotzdem klagte er nicht. Saß nur da und wollte mir helfen. Wie immer. Mein großer Bruder!

„Ich liebe dich!", seufzte ich und lehnte mich lächelnd an ihn. „Ganz arg! Und ich weiß, dass ich dich gar nicht verdient habe! Du bist einfach der beste Bruder, den es auf der ganzen Welt gibt!"

„Spinner ...", nuschelte der harte Arne gerührt und zog mich in seine Arme. „Aber ich liebe dich auch, Kleiner!" Und wurschtelte mir durchs Haar. Wenn er das tat, fühlte ich mich wie sechs und sehnte mich in diese Zeit zurück. In die Zeit, wo das größte Problem darin bestand, ob man nun Superman oder Batman besser fand, oder doch lieber den Joker? Nicht wie jetzt, wo alles kompliziert war, man sich fragte, was das Leben einem zu bieten hatte, fürchten musste, allein übrig zu bleiben. Den Sinn des Daseins hinterfragte und teilweise mehr Angst, als Freunde darüber empfand, was einem der Morgen bringen würde. Der Morgen ... die Zukunft ... alles stand im Wandel, nichts war heute noch so, wie es gestern war, und morgen würde es noch ganz anders werden. War es da nicht verständlich Angst zu haben?

Alles änderte sich. Freund, Verwandte, Bekannte. Nur ich, ich blieb irgendwie hier alleine zurück. Bekam es nicht auf die Reihe, etwas zu halten. Keinen Freund, keinen Arbeitskollegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Arne seinen Weg gehen würde. Ich wusste, dass er sein Leben nur meinetwegen so lebte, wie er es tat. Aber auch ihm war das sicher irgendwann nicht genug.

Vor allem jetzt, wo es bei ihm in der Arbeit nicht gut lief. Er sagte zwar nichts, aber ich sah es ihm an, sah, dass es ihn fertig machte und dass es sich nur um eine Frage der Zeit handelte, bis er sich entschloss, sein Leben hier abzubrechen. Und dann? Sicher, er würde mich mitnehmen! Aber es würde nichts ändern. Er wäre unglücklich und würde still leiden und ich wäre nicht glücklich und würde übertrieben laut leiden. Nur der Ort und die Zeit würden sich ändern. Wir hingegen würden immer noch festsitzen, wie schon seit Jahren.

„Zieh dich an ... sonst wirst du krank!", bat ich ihn, nachdem ich meine düsteren Gedanken beiseiteschob. Es brachte nichts. Ich konnte ja doch nichts daran ändern! Es war nicht so wie in Märchen, wo es reichte, sich nur etwas ganz fest zu wünschen und schon wurde es wahr. Und man konnte mir nicht nachsagen, ich hätte es nicht versucht! Das hatte ich! Immer und immer wieder, hatte ich mir Sachen gewünscht, hatte dafür gebeten. ‚Lass Mommy und Daddy wieder zurückkommen!', ‚Lass ihn endlich den Richtigen sein ...' ‚Lass Arne nicht mehr so traurig und einsam sein'. Aber alles vergeblich. Vielleicht gab es für uns beide auch einfach kein Happy End.

Wenigstens hatten wir noch uns.

„Was wirst du jetzt tun?", wollte er wissen, während er sich erhob. Schulterzuckend sah ich ihm nach.

„Keine Ahnung! Aber ich werde wohl bei Micha anrufen und ihn bitten, dass er heute schon früher kommt, wenn du nichts dagegen hast.", seufzte ich in der Hoffnung, dass Michael mir vielleicht bei meinem Problem weiter half.

„Wieso sollte ich? Tu das ruhig!"

Mr. Unverbesserlich (Mr. 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt