Kapitel 12

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„Tia, bitte. Was ist denn los? Es tut nicht weh, versprochen." mischt sich nun Alex wieder ein. Ich kann nicht mehr in ihre Gesichter schauen. Ich halte diese Blicke nicht mehr aus. Langsam kommt Ben ein bisschen näher zu mir und ergreift schließlich meinen Pullover, um ihn mir über den Kopf zu streichen. Ich lasse es einfach geschehen. Jeder Widerstand ist sowieso zwecklos. Sie werden es herausfinden und ich kann nichts dagegen tun.

Als mein Oberkörper frei ist, höre ich wie Alex scharf die Luft einzieht. Ben sieht mich ebenfalls schockiert an. „Tiana, was ist passiert?" fragt Alex und kommt näher auf mich zu. „Nichts, ich bin die Treppen hinuntergefallen." meine ich leise. Diese Lüge ist die letzte Möglichkeit noch irgendwie von der Wahrheit abzulenken.

Mein Blick ist starr auf dem Boden gerichtet. „Tia, wir wissen, dass das nicht die Wahrheit ist. Wer war das?" spricht nun wieder Ben nach einer längeren Pause. „Die Treppe." antworte ich. Ich sehe aus dem Augenwinkel das Alex ansetzt, um zu sprechen, allerdings schneidet Ben ihm das Wort ab. „Okay. Also ich werde dich zuerst abhören, danach Blut abnehmen und Blutdruck messen. Später schauen wir uns noch deine Verletzungen an." klärt mich Ben auf. „Muss das sein?" frage ich. Ich will das alles einfach nicht. Ich will nach Hause in mein Bett und Netflix gucken und vor allem der unangenehmen Situation aus dem Weg gehen. „Ja, muss es. Also fangen wir an." spricht mein großer Bruder ernst und noch immer etwas geschockt.

Nachdem ich alles über mich ergehen ließ, kann ich endlich wieder aufatmen. Hoffentlich sprechen die beiden meine Verletzungen nicht nochmal an. Zu meiner Überraschung sagen sie nichts mehr, zumindest nicht jetzt. „Tia, du kannst schonmal zu meinem Auto gehen. Hier hast du die Schlüssel, aber nichts anstellen. Ok?" sagt Ben. „Ja, ja." antworte ich nur und bin schon auf dem Weg nach draußen. Was bin ich froh, dass das alles vorbei ist und ich endlich hier raus kann.

Alex' Sicht

„Ben, wir wissen doch beide, dass diese Verletzungen unmöglich von einem Treppensturz kommen. Warum hast du nicht weiter nachgefragt? Wir müssen wissen, wer ihr das angetan hat. Das muss dringend geklärt werden." spreche ich frustriert meine Gedanken aus. „Hast du denn nicht gesehen, wie unangenehm ihr das war. Hätten wir beide weiter auf sie eingeredet, dann hätte sie sich noch mehr verschlossen. Wir sollten heute Abend nochmal mit ihr in Ruhe darüber sprechen. Vielleicht auch mit Arian und Levin, aber so hat das ganze keinen Sinn." redet mir mein Kollege ins Gewissen. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn die anderen auch dabei sind. Schließlich sind die beiden Polizisten und haben sicher schon das ein oder andere Mal so etwas erlebt. Ich muss sagen, dass ich erst zwei Mal in meiner Zeit als Arzt mit häuslicher Gewalt zu tun hatte und da waren die betroffenen Personen schon um einiges älter. Es ist etwas ganz anderes, wenn man plötzlich seine eigene Schwester so sieht.

„Du hast ja recht, aber es ist schwierig seine kleine Schwester so zu sehen." sage ich. „Ich weiß. Beruhige dich etwas. Sie wird heute sowieso nur mehr zu Hause sein. Dafür sorge ich und dann kann Tiana auch nichts mehr passieren. Ok?" meint Ben. Ich nicke nur, danach verabschieden wir uns noch und dann mache ich mich wieder an die Arbeit, auch wenn mein Kopf nicht wirklich bei der Sache ist.

Tiana's Sicht

Als Ben endlich kommt, fahren wir auch schon los. Ich bin froh, dass er nicht weiter auf meine Verletzungen eingeht. Die Wahrheit kann ich einfach nicht sagen. Außerdem kann ich meinen Papa nicht verraten. Er mag womöglich nicht der bester Vater auf der Welt sein, aber trotzdem hat er mir ein Dach übern Kopf geboten, ich hatte Essen und vor allem hat er mir immer mein Insulin gebracht. Ohne ihn wäre ich aufgeschmissen gewesen.

Zu Hause angekommen, will ich sofort in mein Zimmer. Ich will jetzt alleine sein. „Hier geblieben. Du isst jetzt erst einmal etwas." Ben legt seine Hand auf meinen Rücken und schiebt mich sanft in die Küche. „Was willst du denn?" fragt er. Ich zucke bloß mit den Schultern. Mir ist der Appetit vergangen, jetzt wo ich weiß, dass sie mich so gesehen haben. „Hey Tiana, hörst du mir zu? Willst du einen Toast oder Müsli mit Joghurt?" reißt mich Ben wieder aus meinen Gedanken. „Nur Joghurt ohne Müsli." antworte ich. „Meinst du nicht, dass das etwas wenig ist?" fragt er, woraufhin ich bloß meinen Kopf schüttle.

Nachdem ich mein Joghurt aufgegessen habe, verkrieche ich mich sofort in mein Zimmer, wo ich auch den ganzen Tag bleibe. Mit Netflix vergeht auch einfach die Zeit super schnell. Irgendwie hat sich mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Es hat sich um 180° gedreht. Aber was ich schon traurig finde ist, dass sich meine beste Freundin Lilly gar nicht mehr meldet. Klar, ich bin ohne mich zu verabschieden einfach gegangen, aber ich hatte ja auch keine andere Wahl. Ich habe ihr danach eine Nachricht geschrieben, wo ich alles grob erklärt habe, aber zurück kam nie etwas. Irgendwie vermisse ich sie. Lilly und ich kennen uns schon seit wir kleine Kinder waren und wir haben immer total viel Mist gebaut. Auf der ein oder anderen Party waren wir auch, obwohl wir eigentlich dafür noch etwas zu jung sind, aber das war uns egal. Es war immer lustig mit ihr. Und jetzt. Sie meldet sich gar nicht mehr. Ich habe hier überhaupt keine Freunde. Hoffentlich ändert sich das, wenn ich nächste Woche zur Schule gehe.

„Tia, essen ist fertig." klopft Alex an meine Tür. Ich wusste gar nicht, dass er schon zu Hause ist. „Ja." antworte ich. Unten angekommen, sitzen alle schon am Tisch, auch Arian und Levin. Das Essen verläuft soweit ruhig. Ich halte mich aus deren Gesprächen raus, weil ich in meinen eigenen Gedanken versunken bin.

Als alle nach einer guten halben Stunde fertig sind, will ich aufstehen und wieder hochgehen, werde aber von Alex aufgehalten. War ja mal wieder klar. Er zieht mich zu sich auf seinen Schoß. „Was ist denn los? Du bist so leise heute." fragt er ruhig. „Nichts. Alles gut. Kann ich jetzt hoch?" sage ich. „Nein, wir wollen noch mit dir reden." Daraufhin verdrehe ich bloß die Augen. „Tia, ich glaube, du weißt, worum es geht. ... Deine Verletzungen sind nicht von einem Treppensturz, so viel steht fest. Jemand hat sie dir hinzugefügt. Wir alle wissen hier, dass das ein schwieriges Thema ist. Aber sag uns bitte, wer dich geschlagen hat." spricht Ben laut, aber dennoch einfühlsam.

Augenblicklich wie er seine Worte ausspricht, versteife ich mich. Meine Muskeln verkrampfen sich am ganzen Körper. Können sie mich nicht endlich in Ruhe lassen und das Thema nicht mehr ansprechen. Ich will aufstehen, aber Alex hat seine starken Arme fest um mich umschlungen und hindert mich so daran. „Lass mich los. Was soll diese Scheiße?" rufe ich verzweifelt. Ich strample und wehre mich was das Zeug hält, aber es hilft nichts. Sein Griff wird nicht lockerer, sondern sogar noch fester. Ich bin gefangen. „Hey, ganz ruhig. Beruhige dich, Tiana. Wir wollen dir doch nur helfen. Auch wenn wir zwei in der Drogenabteilung bei der Polizei arbeiten, haben wir schon den ein oder anderen Fall von häuslicher Gewalt mitbekommen. Es ist ein ganz typisches Verhalten, dass die Opfer die Täter schützen wollen, vor allem wenn die Täter nahe Angehörige sind. Aber Tia, hör zu, wer auch immer das war, er hat es verdient eine gerechte Strafe zu bekommen. Keiner, und damit meine ich wirklich keiner, darf geschlagen werden. Sagst du uns bitte, wer dir das angetan hat?" versucht nun auch noch Levin sein Glück.

Mittlerweile hockt er vor mir und Alex und versucht seine Augen mit meinen zu verschränken. Ich schaue aber immer wieder weg. Ich will hier nur noch weg. Mir laufen Tränen den Wangen hinunter. Verdammt!! Sie dürfen mich nicht so sehen. So verletzlich. Keiner darf mich weinen sehen. Weinen ist eine Schwäche. Das hat mir Dad schon in meinen jungen Jahren beigebracht. Immer wenn ich angefangen habe zu weinen, hat er so lange auf mich eingeprügelt, bis ich es mir das nächste Mal zweimal überlegt habe, ob ich wieder vor ihm weine.

Ich schlage um mich bis ich keine Kraft mehr habe. „Komm schon. Bitte, bitte sag wer das war?" redet Arian. Ich sage nichts. „War es Martin?" fragt plötzlich mein Bruder. Mein Kopf schnellt in die Höhe. Was? Wie kommt er plötzlich darauf? Martin ist unser Vater. Wie kann er die Wahrheit wissen? „Also, liegt Alex richtig. Martin, dein Vater, hat dich geschlagen. Stimmt's?" fragt Ben leise nach. „Bitte, lasst mich in Ruhe." rufe ich verzweifelt. Plötzlich werden Alex' Arme locker. Ich stehe schnell auf und sehe Alex an. Er sieht komplett geschockt und mitgenommen aus. Anscheinend hätte er sich nicht einmal in seinen Träumen vorstellen können, dass unser Vater zu so etwas fähig ist. 

Twisted Life   (Big Brother Story)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt