18. Kopfball

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Mit rasendem Herzen folgte ich Van durch das Theater.

Immer wieder murmelte er Entschuldigungen, wenn wir einem weiteren Besucher kurzzeitig die Sicht auf das Stück versperrten. Doch Markus war wichtiger als ein Ausschnitt aus ‚Emilia Galotti'.

Als wir den roten Teppichboden betraten, schlüpfte ich aus meinen Schuhen, um mit Van schrittzuhalten. Nebeneinander rasten wir unter dem Licht der Kronleuchter entlang. Keiner von uns beiden wusste genau, was passiert war.

Markus' Trainer hatte am Telefon lediglich gesagt, dass Markus beim Spiel gestürzt war und nur unter Schmerzen hatte laufen können, weshalb sie den Krankenwagen gerufen hatten.

Unwillkürlich fragte ich mich, ob es Daniel gewesen war, der Markus abgeholt hatte, doch ich verwarf den Gedanken wieder, als ich sah, wie niedergeschlagen Van war.

„Er ist so ein Idiot.", wiederholte er zum neunten Mal, als er bei Rot über die Ampel fuhr.

Der Tacho des SUVs verriet mir, dass wir mit über siebzig km/h unterwegs waren. Ich umgriff meine Handtasche fester, die Neonschilder und Leuchtzeichen waren nur noch bunte Farbkleckse, die an uns vorüberzogen.

„Er hat darauf bestanden, dass sie das Spiel fortsetzen. Wie kann man so wenig Selbstachtung haben."

Vans Stimme überschlug sich, seine sonst weichen Worte fühlten sich wie Schleifpapier in meinen Ohren an. Ich wagte es nicht, mich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Wir kamen so abrupt vor dem Krankenhaus zum Stehen, dass ich auf meinem Sitz nach vorn geschleudert wurde, der Sicherheitsgurt zog mich unsanft zurück an die Lehne.

Schweißperlen traten auf Vans Stirn, ich hatte ihn noch nie so panisch erlebt.

„Wenn ihm was passiert ist, bringe ich ihn um, darauf kann er sich verlassen."

In meinen Absatzschuhen, die ich während der Fahrt wieder angezogen hatte, hatte ich Mühe, schrittzuhalten. Van hastete über den Gehweg und stieß die Glastür so kräftig auf, dass ich glaubte, sie würde in seiner Hand zerspringen.

Am Empfang saß eine andere Dame als die, die mir normalerweise den Weg zum Zimmer meiner Mutter erklärte. Jetzt nahm eine schlanke Schwarzhaarige ihren Platz ein. ‚Groß' stand in sauberen Buchstaben auf ihrem Namensschild geschrieben und ich schmunzelte. Hinter dem Tresen sah sie so zierlich aus, dass sie Van, der mich nur um wenige Zentimeter überragte, kaum bis zur Schulter reichen konnte. Trotz der späten Uhrzeit trug sie ein warmes Lächeln im Gesicht.

„Wir wollen zu Markus Stoll, er ist gerade eingeliefert worden."

Ich sah, wie die junge Frau unter Vans scharfen Worten zusammenzuckte. Ohne auf seinen Tonfall einzugehen, überflog sie den Zettel, der vor ihr auf dem Tresen lag.

„Zimmer 194. Die Besuchszeiten sind aber schon vorbei, reichen Ihnen zwanzig Minuten, um das Nötigste zu klären?"

Ihre Stimme war kindlich und obwohl sie mindestens so alt sein musste wie ich selbst, hatte ich das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Als sie uns unsere Ausweise reichte, lächelte ich sie dankbar an.

Meine Schuhe klackten leise auf dem Gummiboden, als ich Van zum Aufzug folgte. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen.

Fieberhaft überlegte ich, was ich sagen sollte, um ihn zu beruhigen, aber ich schwieg. Ich wusste nicht, wie ich ihn unterstützen konnte und bezweifelte, dass er meine Hilfe überhaupt wollte.

Erst, als wir Markus' Zimmer betraten und er sah, dass sich sein bester Freund bereits angeregt mit dem Arzt unterhielt, fiel die Anspannung von ihm ab. Er ließ die Schultern sinken und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht.

„Was machst du denn?"

Verärgert warf Van die Hände in die Luft, doch Markus ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

„Das Eins zu Null verhindern. Den Kopfschuss hättest du sehen müssen, es war genial."

Seine schokoladenbraunen Augen glänzten vor Begeisterung.

„Ihr Kopfschuss war so genial, dass Sie sich beim Landen einen Kreuzbandriss zugezogen haben. Sind Sie sich im Klaren darüber, welche Auswirkungen das haben kann?"

Der Arzt, der die Szene zunächst stumm beobachtet hatte, überflog erneut den Zettel auf seinem Klemmbrett. Sein Gesichtsausdruck war alles andere als glücklich. Er schob seine Brille in seine grauen Haare.

„Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Bei der konservativen Behandlung soll Ihre Kniemuskulatur soweit gestärkt werden, dass sie die Funktion des fehlenden Kreuzbands ausgleichen kann.

Abhängig davon ob und welche weiteren Kniestrukturen verletzt wurden, kommt auch eine Operation infrage, das wird sich im Laufe der weiteren Untersuchungen zeigen. Vor der Operation müssen wir allerdings mindestens zwei Wochen warten, bis Ihr Knie wieder abgeschwollen ist.

Egal, welche Behandlungsmöglichkeit wir am Ende wählen werden, Sie müssen sich darauf einstellen, eine Zeit lang auf Fußball zu verzichten."

Van verschränkte die Arme vor der Brust, er war beunruhigt, ganz im Gegensatz zu Markus, der noch immer selbstgefällig grinste.

„Ach was, ich werde schneller wieder auf den Beinen sein, als Sie denken. Was sagst du dazu, Fanboy?"

Er warf seinem Freund einen provozierenden Blick zu, doch Van zuckte nur die Schultern.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Arzt den Kopf schüttelte.

„Nach der Operation ist bis zu einem Jahr lang eine Heil- und Trainingsphase nötig. Herr Stoll, Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen Ihre Hoffnung nehmen muss, aber Sie sind sechsundzwanzig Jahre alt. Bis Sie wieder Leistungssport betreiben können, sind Sie längst zu alt, um noch in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden, wenn ein intensives Training überhaupt jemals wieder in Frage kommt. Das kann nur die Zeit zeigen."

Trotz der monotonen Stimme des Mannes schien auch Markus endlich den Ernst der Lage zu begreifen. Sein leichtsinniger Sprung und die unglückliche Landung bedeuteten das Aus für seine Karriere. Der Traum von der Nationalmannschaft zerplatzte wie eine Seifenblase vor seiner Nase.

„Das ist doch Schwachsinn!", fauchte er. „Ich will einen anderen Arzt!"

Ich spürte, dass ich fehl am Platz war. Unbemerkt schlich ich mich aus seinem Zimmer, während der Arzt und Van versuchten, Markus zu beruhigen. Seine schrillen Schreie waren auch auf dem Flur noch deutlich zu hören.

Gedankenverloren schlich ich über die Station.

Es war unheimlich still ohne die Besucher, die nach ihren kranken und verletzten Angehörigen sahen. Das Krankenhaus hatte etwas Bedrückendes an sich, mein Herz zog sich mit jeder Tür, die ich passierte, weiter zusammen.

Ohne überhaupt bemerkt zu haben, dass ich die Treppen hinaufgegangen war, fand ich mich plötzlich vor dem Zimmer 235 wieder. Vorsichtig schob ich die Tür auf und spähte in den dunklen Raum hinein.

Meine Mutter lag schwach und verletzlich in ihrem Bett, die weiße Decke umschloss ihren schmalen Körper. Sie sah nicht mehr aus wie die starke Frau, die mich großgezogen hatte. Alles, was jetzt noch von ihr übrig war, war ein Schatten ihres Selbst. Ihre braunen Haare waren so dünn geworden, dass vereinzelt ihre Kopfhaut durch sie hindurch schimmerte. Ihr Schicksal glich Thereses, auch wenn ich das nie hatte wahrhaben wollen.

Ich wusste nicht, wann es passiert war, doch ich sah deutlich, dass meine Mutter sich aufgegeben hatte. Ein Zustand, der ihr weder stand, noch zu ihr passte, doch Margarete Thelen war am Ende wie schon ihr Mann Jahre zuvor.

Das, was der Lungenkrebs meiner Mutter nahm, nahm das zerstörte Knie Markus:

Den Willen, zu leben.

Grün Weiß - Unreife & LeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt