35. Margarete

4 2 0
                                    

Es roch nach Tod, als ich die Glastür aufschob und einen Fuß auf den Gummiboden des Krankenhauses setzte. Die Luft war warm und stickig, der Gestank von Erbrochenem und Fäule stieg mir in die Nase, obwohl eine Putzfrau wenige Meter entfernt jede Türklinke desinfizierte.

Ich hielt den Atem an, während ich mit schnellen Schritten in Richtung Tresen marschierte. Die Krankenschwester dahinter tippte etwas in ihren Computer, ohne sich von dem Gestank aus dem Konzept bringen zu lassen. Sie hatte die Stirn konzentriert in Falten gelegt und warf ab und zu einen Blick auf den Papierstapel vor sich.

„Hallo, mein Name ist Lizzy Thelen. Ich möchte meine Mutter Margarete Thelen besuchen."

Ich schob meinen Ausweis über das frisch polierte Holz, aber die Krankenschwester machte keine Anstalten, danach zu greifen. Stattdessen strich sie die Strähnen ihrer schokoladenbraunen Mähne, die aus ihrem Dutt entflohen waren, hinter ihre Ohren. Sie verschränkte die Hände vor sich neben dem Papierstapel und sah zu mir auf. Etwas in ihrem Blick sagte mir, was passiert war, bevor sie es aussprach.

„Wissen Sie es noch nicht? Verzeihen Sie bitte, dass Sie es so ganz ohne Vorwarnung erfahren müssen, aber Ihre Mutter Margarete Thelen erlag in der Nacht ihrer Krankheit. Mein aufrichtiges Beileid."

Der Boden wurde mir unter den Füßen weggerissen. Ich umklammerte das glatte Holz des Tresens, um nicht auf die Knie zu fallen. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Bittere Galle schoss meine Speiseröhre hinauf und ich presste die Lippen zusammen, um mich nicht auf den Arbeitsplatz der Frau übergeben zu müssen. Zu meiner Überraschung blieben die Tränen zunächst aus, ich konnte nur unbewegt dastehen und die Krankenschwester mit weit aufgerissenen Augen anstarren.

„In den letzten Tagen litt sie immer häufiger an Atemnot, es ging ihr zusehend schlechter und wir verabreichten ihr Medikamente, um die Symptome zu unterdrücken. Schließlich besiegte sie der Lungenkrebs, aber durch die Behandlung wurde Ihrer Mutter ein leichteres Sterben ermöglicht."

Mir wurde schwarz vor Augen und ich schüttelte den Kopf, um den Schwindel zu vertreiben. Es war unmöglich, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Mein Herz bebte in meiner Brust, als würde es in der nächsten Sekunde platzen. In meinem Magen breitete sich eine kalte Leere aus.

„Warum haben Sie mich nicht angerufen?"

Ich erschrak, als ich eine dünne Stimme hörte. Es dauerte einen Augenblick, bis ich verstand, dass sie zu mir gehörte. Die Krankenschwester legte mitleidig den Kopf schief. Kurz ähnelte sie Ruby so sehr, dass ich sie am liebsten geschlagen hätte.

„Frau Thelen verbot es uns ausdrücklich."

Ich schüttelte den Kopf, die Spitzen meiner blonden Haare piekten wie Pfeile in meine Wangen.

Das konnte nicht wahr sein.

Es war ein Fehler gewesen, mich mit meiner Mutter zu streiten. Ich hätte zu ihr gehen sollen, um mich zu entschuldigen. Ich hätte meine Worte zurück nehmen sollen. Ich hätte auf die Knie fallen sollen, um meine Mutter um Verzeihung zu bitten.

Trotzdem war neben der Schuld auch Wut, die einzig ihr allein galt. Ich war ihre Tochter und hatte es verdient, mich von ihr zu verabschieden. Doch jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen, das für den Rest meines Lebens auf meinen Schultern lasten würde.

In meiner Tasche klingelte mein Telefon. Ich zögerte eine Sekunde, als Bernd Herolds Name auf dem Display erschien, dann nahm ich den Anruf an.

„Lizzy, die Zeit wird knapp. Du musst abliefern, wenn du nicht willst, dass deine Karriere nach nur einem Bestseller vorüber ist."

Als hätte er einen Schalter umgelegt, flossen die Tränen plötzlich in Strömen über meine Wangen und tropften lautlos auf den Gummiboden. Ich schluchzte in den Hörer hinein, dann hielt ich inne. Ich hatte sein Fordern endgültig satt.

„Wissen Sie was, Bernd Herold? Meine Mutter ist gerade gestorben, das Buch kann warten!"

Meine Stimme brach, als ich die Fakten aussprach. Ich schluchzte erneut, meine Nase war verstopft und ich rang nach Luft.

Am anderen Ende der Leitung seufzte Herold.

„Das tut mir sehr leid für dich, Lizzy, das ist sicher schwer für dich. Aber deine Karriere steht vorerst im Vordergrund. Du musst dich zusammenreißen."

Mit offenem Mund starrte ich ins Leere. Mein Herz setzte einen weiteren Schlag aus. Ich spürte, wie meine Hände kalt wurden. Meine Finger umschlossen das Handy so fest, dass ich glaubte, es würde an meinem Ohr zerspringen.

„Sie haben keine Ahnung, wie es mir geht!"

Meine Stimme überschlug sich, hinter mir hörte ich, wie die Krankenschwester mich ermahnte, Ruhe zu bewahren und die Patienten nicht zu stören, aber ich war noch nicht fertig. Die Gedanken rasten in meinem Kopf.

„Seit Monaten setzen Sie mich unter Druck und ich habe immer mein Bestes gegeben! Alles, worum ich Sie bitte, ist ein bisschen Zeit, um den Verlust zu verarbeiten, aber selbst das ist zu viel verlangt. Es wundert mich nicht, dass Sie mit Ihrem Verhalten die Kritiker nicht mehr begeistern konnten und Ihre Karriere selbst beendet haben. Aber projizieren Sie Ihre Fehler nicht auf mich!"

Sollten meine Worte ihn getroffen haben, ließ er es sich nicht anmerken. Seine Stimme war unverändert kehlig, seine Worte so gewählt wie immer.

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, meine Haut klebte.

„Denk von mir, was du willst. Aber du hast nur noch zwei Wochen Maximum, um deine Karriere zu retten. Danach kannst du immer noch trauern."

Seine Strenge ließ kein Nein zu. Er legte auf, bevor ich noch etwas erwidern konnte. Während ich im Eingangsbereich des Krankenhauses stand und meine Tränen begannen, zu versiegen, wurde mir bewusst, dass meine Mutter Recht gehabt hatte:

Ich war wirklich allein auf der Welt.

Die Personen, denen ich einmal wichtig gewesen war, hatte ich lange verloren. Van und Markus waren zu zweit, keiner der beiden brauchte mich wirklich in seinem Leben. Alles, was mir blieb, war ein Buch, das ich nicht mehr schreiben wollte.

Grün Weiß - Unreife & LeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt