31. Anfang

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„Bleib wo du bist, ich hole dich ab."

Seit zehn Minuten starrte ich auf Vans letzte Nachricht und wartete darauf, dass er vor dem ‚Grün und Weiß' vorfahren würde. Am Telefon hatte ich ihm kurz geschildert, wovon Flavio mir erzählt hatte. Ich war völlig aufgelöst, die Tränen hatten rote Spuren auf meinen Wangen hinterlassen, meine Augen waren aufgequollen.

Kaum hatte Flavio niedergeschlagen das Café verlassen, hatte ich stumm begonnen, zu weinen, ohne den Grund dafür zu kennen. Um diese Zeit hatte kaum ein Farbklecks an einem der vielen Rundtische gesessen, weshalb ich ungestört hatte trauern können. Erst, als ich es nicht mehr ausgehalten hatte, war ich auf die Idee gekommen, mich bei Van zu melden, der mich davon überzeugt hatte, dass Autofahren bei Nacht die Beruhigung war, die ich jetzt gebrauchen konnte.

Endlich kam der schwarze SUV vor der Glastür zum Stehen, Van saß in einem grauen Kapuzenpullover am Steuer und blickte ins Innere des Cafés. Unsere Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde und ein Schauer eiskalter Rattenfüße huschte über meinen Rücken.

Ich griff nach meinem Laptop und meiner Handtasche und hastete zur Tür hinaus. Van stand bereits auf dem Gehweg und breitete die Arme aus. Als ich mich an ihn schmiegte, stieg mir der vertraute Minzgeruch seines Shampoos in die Nase. Ich lächelte.

„Es ist vorbei, Liz."

Widerwillig schüttelte ich den Kopf, so sehr ich ihm auch glauben wollte, zumindest dieses Mal lag er im Unrecht.

„Für mich ist es vorbei, aber Flavios Leid geht erst richtig los, wenn er zuhause ist."

Van drückte mich noch etwas fester an sich, eine Sekunde lang blieb mir die Luft weg, mein Herz machte einen Freudensprung in meiner Brust.

„Das kannst du gar nicht beeinflussen. Er wollte deine Hilfe nicht annehmen, richtig?"

Ich nickte an seiner Schulter. Mein Tränenvorrat für heute war lange aufgebraucht, meine Augen schmerzten und ich fühlte mich erschöpft.

„Dann kannst du nichts für ihn tun, so sehr du es auch willst."

Zu gerne hätte ich etwas gesagt. Hätte erklärt, dass Flavio die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er jemanden brauchte, der ihm aus seinem Loch heraushalf und zeigte, dass bessere Zeiten kommen würden. Dass Flavio keinen Ausweg mehr sah und ich ihm helfen musste.

Und doch hatte Van Recht, es war nicht meine Aufgabe, Flavio zu helfen, wenn er meine Unterstützung nicht wollte.

Ich schluckte und löste mich aus unserer Umarmung.

Als hätte unser kurzes Gespräch nie stattgefunden, hielt Van die Beifahrertür auf und wartete, dass ich auf dem schwarzen Sitz Platz nahm. Er umrundete den SUV mit ausladenden Schritten und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Aus dem Radio tönte leise Van Morrisons warmer Bariton, als Van den Motor startete und auf die Straße bog.

Der Asphalt glänzte noch von dem Regen, der gefallen war, als auch ich meine Tränen vergossen hatte. Vor meinen Augen verschwamm das Scheinwerferlicht mit den Neonschildern am Straßenrand, die den Mond und die Sterne unsichtbar machten. Durch das heruntergelassene Fenster strömte kühle Luft ins Innere des Wagens, es roch nach einer Mischung aus Laub, Tabak und Teer.

Obwohl ich neben mir Vans gleichmäßigen Atem hörte, der hin und wieder von seinem Gesang unterbrochen wurde, wenn er Van Morrison begleitete, und aus dem Augenwinkel sah, wie er konzentriert auf die Straße blickte, fühlte ich mich einsam in der Dunkelheit. Das Herz schlug mir bis zum Hals, eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und ich zog meine Jeansjacke enger um meine Schultern, um mich zu wärmen.

„Wie bist du eigentlich in das Café gekommen?"

Vans Worte durchbrachen meine Gedanken so plötzlich, dass ich zusammenzuckte.

„Was meinst du?"

Er warf mir einen flüchtigen Seitenblick zu, seine grauen Augen glänzten schuldbewusst.

„Jetzt wo du deine..." Er senkte die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern. „... Schreibblockade überwunden hast, fragst du alle anderen nach ihren Geschichten, aber du hast mir noch nie deine eigene erzählt. Wie fängt sie an?"

Als wäre es von keiner großen Bedeutung, zuckte er die Schultern. Trotzdem konnte seine Gelassenheit nicht verhindern, dass ich tiefer in den Sitz rutschte. Ich senkte den Blick und beobachtete das nervöse Tippen meiner Schuhe auf die Fußmatte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, den ich nicht herunterschlucken konnte.

Erneut sah Van zu mir herüber.

„Wie auch immer, es ist gar nicht so wichtig...", stammelte er, aber ich hob die Hand, um ihn zu unterbrechen.

„Es ist nichts im Vergleich zu den anderen Geschichten, schätze ich. Vor der Lungenkrebsdiagnose meiner Mutter haben wir das Café oft gemeinsam besucht, die Menschen beobachtet und uns darüber unterhalten, was sie außerhalb des ‚Grün und Weiß' beschäftigt. So habe ich überhaupt erst von seiner Existenz erfahren.

Dann – vor etwas mehr als drei Jahren – hatte ich einen schlimmen Streit mit meiner besten Freundin Johanna. Als sie wütend aus meinem Haus gestürmt ist, konnte ich nicht länger dort bleiben. Also bin ich umher gelaufen und habe nach einem Ort gesucht, an dem ich in Ruhe nachdenken konnte. Das ‚Grün und Weiß' war das einzige Café in der Nähe, das um diese Zeit geöffnet hatte und als ich es an diesem Tag betreten habe, hat sich etwas verändert. Es wurde zu so etwas wie einem Rückzugsort, seitdem habe ich es jede Woche besucht.

Tja, und das ist alles, schätze ich. Wie gesagt, es ist nicht besonders spannend."

Eine Weile starrte Van stumm auf den Asphalt. Van Morrisons Musik war langsamer geworden und passte sich der getrübten Stimmung an.

„Habt ihr euch wieder vertragen?"

Hoffnung lag in seiner Stimme, die mein Herz in tausend Stücke zerbrechen ließ. Ich ließ den Kopf hängen. Einen Augenblick lang überlegte ich, ihn einfach anzulügen, doch die Wahrheit kam schneller über meine Lippen, als ich sie vertuschen konnte.

„Tja, ich wünschte es wäre so."

Van drückte beruhigend meine Hand, obwohl ich die Schultern zuckte, um möglichst unbeteiligt zu wirken. Trotzdem konnte ich nicht abstreiten, dass mich der Gedanke an diesen Nachmittag verletzte.

„Das tut mir leid, Liz."

Ich schüttelte seine Hand ab. Bittere Galle bahnte sich ihren Weg meine Speiseröhre hinauf, zu groß war der Ekel, der mich mit einem Schlag überkam und allein mir selbst galt. Van sollte mich nicht bemitleiden, denn ich hatte den Streit und das Ende meiner Freundschaft mit Johanna zu verantworten.

An diesem Nachmittag war sie zu mir gekommen, um mich auf mein Buch anzusprechen, ihre Mascara war verschmiert und ihre Augen aufgequollen gewesen, ihre Stimme hatte sich überschlagen, als sie mir erzählt hatte, dass ich der Grund für das Ende ihrer Beziehung war.

Wenige Wochen zuvor hatte ich mein erstes Buch veröffentlicht, das die Geschichte von Johanna und Konstantin erzählte.

Grün Weiß - Unreife & LeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt