27. Palliativstation

8 3 0
                                    

Mein Herz bebte in meiner Brust, als ich durch die Glastür trat. Der Geruch von Tod und Desinfektionsmittel schlug mir entgegen, ich rümpfte die Nase. Meine Schuhe quietschten auf dem Gummiboden, als ich mir meinen Weg zum Empfang bahnte.

Hinter dem Tresen saß heute eine Krankenschwester mit kurzgeschorenen grauen Haaren. Ihre Fingernägel waren mehrere Zentimeter lang, funkelnde Steinchen zierten den violetten Lack. Sie kritzelte aufgeregt etwas in ihr Notizbuch und bemerkte mich erst, als ich mich räusperte.

„Was kann ich für Sie tun?"

Ihre Stimme war heiser, als hätte sie die letzte Woche damit verbracht, sich die Seele aus dem Leib zu schreien.

„Hallo, mein Name ist Lizzy Thelen. Ich möchte meine Mutter Margarete Thelen besuchen."

Ich schob meinen Ausweis über den Tresen, die Krankenschwester hielt ihn in ihren frisch manikürten Händen, während sie konzentriert auf den Computer vor sich starrte. Sie hielt inne, ihre Augen ruhten auf dem Bildschirm, schmale Fältchen zeichneten sich auf ihrer Stirn ab.

„Folgen Sie dem Gang bis zum Aufzug. Dritte Etage, Zimmer 352. Sie gehen durch die linke Glastür und immer geradeaus, dann können Sie es nicht verfehlen."

Sie reichte mir meinen Ausweis, aber ich zögerte.

„Das kann nicht sein." Meine Stimme brach, ich holte tief Luft, bevor ich weiter sprechen konnte. „Ich habe sie neulich besucht, sie liegt in Zimmer 235."

Die Krankenschwester seufzte bedauernd, sie hatte die Hände ineinander gelegt, ihre Nägel funkelten im gelben Neonlicht.

„Entschuldigen Sie, dass Sie es auf diesem Weg erfahren müssen, Frau Thelen, aber Ihre Mutter Margarete Thelen wurde auf die Palliativstation verlegt."

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Mein Herz raste. Obwohl ich noch nie von dieser Station gehört hatte, ahnte ein Teil von mir bereits, dass sie nichts Gutes verhieß. Salzige Tränen stiegen in meine Augen, doch ich schluckte sie herunter.

„Was bedeutet das?"

Ich hatte Mühe, gleichmäßig zu atmen. Mein Puls passte sich dem Tippen ihrer Acrylnägel auf dem Holz an.

„Die Palliativstation ist wohnlicher gestaltet, es werden die Symptome der Krankheit behandelt, im Fall Ihrer Mutter aber nicht mehr der Krebs selbst. Außerdem bieten wir psychosoziale Unterstützung an, sowohl für die Patienten als auch für deren Angehörige."

In mir zerbrach etwas, von dem ich nicht wusste, was es war. Hoffnung, Positivität oder mein Herz, vielleicht eine Mischung aus allen dreien. Es war vorbei, auf einen Schlag es gab keinen Grund mehr, zu kämpfen, denn für meine Mutter gab es keine Chance auf Rettung mehr.

Als würde ich mich durch eine Wattewand quetschen, schlich ich den ausgeschilderten Gang in Richtung Aufzug entlang. Meine Beine waren schwer, jeder meiner Schritte kostete mich eine enorme Kraft, sodass ich nach wenigen Metern glaubte, auf dem Gummiboden zusammenzubrechen. Das Neonlicht brannte in meinen Augen, ich blinzelte gegen die Tränen an, die nur darauf warteten, in Strömen über meine Wangen zu fließen und sich auf dem Flur zu einem Meer zusammenzufinden. Mein Magen war flau und ich fragte mich, wann ich das letzte Mal etwas gegessen hatte, ohne mich daran erinnern zu können. Scham kroch in meine Knochen, brachte meine Wangen zum Glühen und mein Herz zum Rasen.

Seit unserem Streit hatte ich kein Wort mehr mit meiner Mutter gewechselt, ihr nicht einmal eine Nachricht geschrieben, zu feige war ich gewesen, mich bei ihr zu entschuldigen oder mir einzugestehen, dass sie Recht damit haben könnte, dass ich mich zu sehr auf mein Buch fokussierte. Ich hatte sie derart verletzt, dass sie es nicht einmal gewagt hatte, mir von ihrer Verlegung auf eine andere Station zu erzählen. Ich wusste nicht, ob sie sich wieder ein Zimmer mit Therese teilte oder ob die Freundin meiner Mutter inzwischen verstorben war, ich wusste nicht, wie es ihr ging, ob ihr Husten schlimmer geworden war, ob sie häufiger nach Luft rang, als sie es bei unserem letzten Gespräch getan hatte, ob die Medikamente ihren Nachtschrank inzwischen vollständig ausfüllten. Und das Schlimmste war, dass ich nicht einmal einen Gedanken an all diese Dinge verschwendet hatte, keine einzige Sekunde meines Lebens hatte ich dem Ende ihres Leidens gewidmet.

Aber jetzt war die Zeit, die mir blieb, um mich mit ihr zu versöhnen, plötzlich absehbar.

Keuchend kam ich an der Tür des Aufzuges zum Stehen, Schweißperlen traten auf meine Stirn. Ich streckte die Hand nach dem Knopf aus, um den Fahrstuhl zu mir zu bestellen, rot und bedrohlich leuchtete er mir entgegen.

Doch bevor meine Finger auf das kühle Metall trafen, begann mein Handy, unsanft zu vibrieren. Genervt fischte ich es aus meiner Handtasche. Bernd Herolds Name erschien in leuchtenden Buchstaben auf dem Display.

Nur widerwillig nahm ich seinen Anruf an.

„Lizzy, ich habe schlechte Neuigkeiten."

Ich schluckte, mein Herz rutschte in das Hosenbein meiner Jeans, landete auf dem Gummiboden und hüpfte davon.

„Der Verlag, der sich für dein Buch interessiert, hat ein Angebot für eine Romanreihe bekommen, die sie noch mehr vom Hocker gerissen hat als dein Probekapitel."

Seufzend lehnte ich mich an die kühle Wand und legte den Kopf in den Nacken. Mit geschlossenen Augen nahm ich den Geruch von Desinfektion und Gummihandschuhen nur noch deutlicher wahr, der sich mit der im gesamten Gebäude angesammelten Trauer zu einer giftigen Mischung verband.

„Was bedeutet das für mich?"

Herold zögerte keine Sekunde mit einer Antwort, die Schärfe seiner Worte jagte mir einen Schauer über den Rücken.

„Es geht nur noch um Schnelligkeit, das erste fertige Buch wird veröffentlicht. Sie warten nicht mehr auf dich, also entweder du reißt sie vom Hocker oder das Angebot ist geplatzt."

Ich schluckte, ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

„Können Sie nicht ein positives Wort für mich einlegen? Ich verspreche Ihnen, dass ich mein Bestes gebe, um so schnell wie möglich fertig zu werden."

Er seufzte am anderen Ende der Leitung. Seine Geduld neigte sich ihrem Ende entgegen, genauso wie meine Chance darauf, weiterhin eine Bestsellerautorin zu bleiben.

„Vorerst kann ich das versuchen, aber an deiner Stelle würde ich mich sofort in das Café begeben und weiterarbeiten. Es geht hier um deine Karriere, Lizzy, vergiss das nicht."

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, hatte Bernd Herold auch schon aufgelegt, das Display meines Handys war so schwarz wie wenige Minuten zuvor.

Unsicher sah ich zwischen dem Aufzug und der Glastür hin und her, mein Herz bebte. Ich machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Krankenhaus in dem Wissen, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. 

Grün Weiß - Unreife & LeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt