32. Moritz

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Das Glöckchen schien um Hilfe zu schreien, als die Glastür des Cafés am Vormittag des nächsten Tages schwungvoll aufgestoßen wurde. Ein kalter Windstoß drang ins Innere des ‚Grün und Weiß' und brachte mich zum Frösteln.

Im Türrahmen stand ein schmaler Mann, der ungefähr in meinem Alter sein musste. Sein mokkabraunes Haar klebte schweißnass an seiner Stirn, die dunklen Augen funkelten wild. Als sich unsere Blicke trafen, sah ich die Verzweiflung in seinem Gesicht. Zögernd machte er einen Schritt auf mich zu, dann noch einen und noch einen, bis er schließlich auf dem Stuhl mir gegenüber Platz genommen hatte.

„Hallo, mein Name ist Lizzy Thelen."

Seine Augen wanderten von meinem Gesicht über meinen Hals und blieben kurz an dem Ausschnitt meiner weißen Bluse hängen, bevor er den Blick wieder hob.

„Hi, mein Name ist Marlon. Marlon König.", hauchte er atemlos.

Die Erkenntnis traf mich so plötzlich und mit einer solchen Wucht, dass ich schauderte.

Er war es, den Jette an dem Abend in der Bar kennen- und lieben gelernt hatte. Er war der Marlon, mit dem sie von einem eigenen Restaurant in San Francisco an Marshall's Beach träumte, das den Besuchern Blick auf die Golden Gate Bridge ermöglichte. Für den sie die leerstehende Kneipe kaufen wollte, um den gemeinsamen Traum schließlich wahr werden zu lassen.

„Erzählst du mir, was dich hier her führt?"

Marlon sackte auf seinem Stuhl ein wenig zusammen, seine Wangen waren eingefallen, als hätte er seit Tagen nichts gegessen, seine Fingerknöchel waren aufgeplatzt, der Geruch von Schweiß drang zu mir herüber. Trotzdem verrutschte mein Lächeln keinen Millimeter. Ich war viel zu gespannt, auch seine Sicht ihrer Geschichte zu hören.

Moritz war noch nie besonders gut darin gewesen, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen. Die einzige Person, die ihm für lange Zeit wirklich nahe stand, war sein bester Freund Emil, ein freundlicher Tätowierer, der sich schon zu Schulzeiten für Moritz eingesetzt hatte.

Sogar seiner Freundin Jana unterstellte Moritz im Heimlichen, dass sie zu ihrem gewalttätigen Exfreund Florian zurückgekehrt war. Sie verschwieg die Wahrheit, erwiderte das ‚Ich liebe dich' häufig nur knapp und war abwesender als zu Beginn ihrer schnelllebigen Beziehung. Dafür konnte es nur einen Grund geben, da war sich Moritz sicher.

Bis er eines Abends – Jana war über das Wochenende mit ihren Freundinnen in den Urlaub gefahren – zu einer Bar fuhr, die er zum ersten und letzten Mal nach seinem Abitur mit Emil besucht hatte. Innerhalb weniger Stunden musste er so viel Alkohol getrunken haben, dass über seinen Erinnerungen ein dunkler Schleier lag. Am nächsten Morgen berichtete ein Kellner, was am Vortag geschehen war:

Als wäre es Wasser hatte Moritz eine ganze Flasche Gin geleert, nur, um sich anschließend neben Bonnie, ein bekanntes und gerngesehenes Gesicht in der kleinen Bar, zu setzen. Die beiden unterhielten sich angeregt, unterbrachen ihr Gespräch allerdings abrupt und stellten sich einander erneut vor, bevor sie wild knutschend auf eines der Zimmer verschwanden.

Wenige Stunden später wachte Moritz mit Kopfschmerzen auf. Eine Nachricht von Bonnie wartete auf seinem Handy auf ihn, aber als er eine Antwort tippte, entdeckte er ihr Telefon auf dem Tisch. Fest entschlossen, es ihr zurück zu bringen und danach den Kontakt abzubrechen, bat Moritz den Kellner darum, ihm die Adresse seiner neuen Bekanntschaft zu verraten.

Der Junge, der sich zunächst nicht beeinflussen ließ, forderte schließlich ein Nacktbild von Moritz im Gegenzug für die Informationen über Bonnie. Noch immer verkatert gab Moritz nach. Zu seinem Glück hatte der Kellner nicht gelogen, nur ein paar Minuten später stand Moritz vor der Haustür seines One-Night-Stands. Er reichte ihr das Handy in dem Vorhaben, sie nicht erneut zu besuchen.

Grün Weiß - Unreife & LeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt