2. Van

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Es war totenstill. Nicht einmal eine Amsel hatte sich an dem Vogelhaus auf meinem Fensterbrett niedergelassen, um ein paar Körner zu fressen und zufrieden zu piepen.

Mein Zimmer sah noch immer so aus, wie ich es am Abend vor dem Schlafengehen zurückgelassen hatte, die Tür war angelehnt, mein Laptop stand aufgeklappt inmitten von Chaos auf dem Schreibtisch, Kleidung stapelte sich auf dem Teppich. In der warmen Sonne, die durch den Vorhang fiel, waren die Staubpartikel in der Luft nicht zu übersehen. Doch abgesehen von der Unordnung, die seit Wochen herrschte, war alles so, wie es sein sollte. Und trotzdem war ich plötzlich aufgewacht, ohne zu wissen, weshalb.

Ich richtete mich auf und tastete nach meinem Handy auf dem Nachtschrank. Es war kurz nach elf Uhr, meine Mutter hatte vor ein paar Stunden versucht, mich anzurufen. Noch bevor ich auf den Hörer neben ihrem Namen drücken konnte, um mich bei ihr zu melden, vibrierte mein Telefon in meiner Hand.

„Hallo Mama, ist alles in Ordnung bei dir?"

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Ich lauschte dem gleichmäßigen Knacken, das aus dem Lautsprecher in mein Ohr drang. Genervt warf ich einen Blick auf den Bildschirm, um zu sehen, ob ich versehentlich aufgelegt hatte, doch die Sekunden am oberen Bildschirmrand nahmen zu.

Fünfunddreißig, sechsunddreißig, siebenunddreißig.

Darüber stand, in großen weißen Buchstaben ‚Bernd Herold' geschrieben.

Wie aufs Stichwort drang kurz darauf seine kehlige Stimme ein wenig verzerrt aus dem Hörer.

„Danke der Nachfrage, Lizzy, auch wenn ich dich leider damit enttäuschen muss, anstelle deiner Mutter anzurufen. Hast du inzwischen eine neue Geschichte entwickelt?"

Ich schluckte.

Die halbe Nacht hatte ich damit verbracht, nach inspirierenden Bildern und Zitaten zu suchen, Wörter in ein Dokument zu tippen und kurz darauf wieder zu löschen. Ich war noch an meinem Schreibtisch eingeschlafen, mit dem Gesicht auf der Tastatur, bevor ich es kurz vor Sonnenaufgang schließlich in mein Bett geschafft hatte. Allerdings ohne eine zündende Idee gehabt zu haben.

Mein Agent deutete mein Schweigen richtig. Er seufzte genervt. Ich wusste, dass er nicht sauer auf mich war, aber seine hörbare Enttäuschung übertrug diese Aufgabe auf mich selbst, das wussten wir beide.

„Dir ist bewusst, dass uns langsam die Zeit knapp wird. Wenn du nicht bald ablieferst, ist deine Karriere vorüber."

„Ich weiß. Ich verspreche Ihnen, dass ich weiterhin mein Bestes geben werde."

Meine Stimme war dünner, als ich es von mir selbst gewohnt war und ich räusperte mich.

„Das will ich hoffen. Ich melde mich bei dir."

Herold legte auf, bevor ich noch etwas erwidern konnte.

Erschöpft ließ ich mich zurück in meine Kissen sinken, mein Kopf war so leer wie bereits die Tage und Wochen zuvor. Als hätte mich ein schwarzes Loch, das jeden Anflug von Kreativität abblockte, verschluckt. Es war hoffnungslos.

Vielleicht sollte ich mit einer Stellensuche beginnen, um mich über Wasser zu halten, denn wenn ich nicht bald abliefern konnte, würden die Einnahmen meines ersten Buches nicht mehr lange genügen.

Ich rollte mich aus dem Bett, als ich es nicht mehr ertragen konnte, meine Zimmerdecke anzustarren. Von ihr würde keine Idee auf mich herabfallen, um mich von dem Druck zu lösen, der meinen Brustkorb zuschnürte.

Ich zog eine Jeans und ein helles T-Shirt aus dem Kleiderstapel auf dem Fußboden, machte mich frisch und verließ, ohne zu frühstücken, das Haus. Meine Mutter hatte mich zu seiner Besitzerin gemacht, kurz nachdem ich achtzehn geworden war, doch obwohl ich mein gesamtes Leben darin verbracht hatte, fühlte es sich mehr nach einem kühlen Backsteinklotz an als nach einem Zuhause.

Ich trat auf den Gehweg, eine Welle schwüler Luft schlug mir ins Gesicht. Die Mittagssonne heizte die Stadt unangenehm auf. Gedankenverloren passierte ich die Fußgänger, die vereinzelt die Straßen überquerten, grüßte die Nachbarn, die in ihren Vorgärten arbeiteten und bog schließlich in die Innenstadt ein. Selbst hier waren weniger Autos unterwegs als üblich. Jeder der unzähligen Einwohner schien das gute Wetter zu nutzen, um Urlaub zu machen. Es gab nichts, das meine Aufmerksamkeit erregte, kein Hupen, kein Schreien, keine Gespräche, die ich belauschen und zur Inspiration nutzen konnte. Nur die verlassenen Wege, Hochhäuser, meine Gedanken und ich.

Ich ließ meinen Blick über den Parkplatz einer Firma schweifen, der größtenteils von schwarzen Luxuswagen belegt war, aber auch hier gab es nichts, dass mich zu einer neuen Idee anregte. Noch nie hatte ich die Stadt so langweilig erlebt.

Mein Agent hatte Recht, ich musste abliefern, um meine Karriere nach nur einem Buch nicht selbst zu beenden. Wenn ich als Autorin weiterhin Erfolg haben wollte, brauchte ich eine neue Geschichte, die die Leute bewegte und sie dazu brachte, Geld in meine Arbeit zu investieren. Doch genau da lag das Problem, meine Schreibblockade hinderte mich daran, eine entsprechende Idee zu entwickeln oder von ihr gefunden zu werden.

Das einzige, das mich von den monotonen Blöcken und meinem Selbstmitleid ablenkte, waren Vans Worte, die seit gestern Abend in meinem Kopf kreisten.

Obwohl er mir seine Geschichte nur unfreiwillig und detailarm erzählt hatte, ergriff mich seine Freundschaft zu Markus und ich fragte mich, wie es seinem Ehemann nach Jahren des Mobbings heute ging, ob er in dem neuen Verein glücklich war und wie Van sich ihm gegenüber verhielt. Vielleicht war der mysteriöse Künstler zu seinen Liebsten ein ganz anderer Mensch, als er es im Café vorgab zu sein. Ich fragte mich, was er gezeichnet hatte und ob ich jemals einen Blick in seinen Block werfen würde.

Vans Geschichte hatte mich überrascht, vor unserem Gespräch hätte ich niemals erwartet, wie sein Leben auf der anderen Seite des ‚Grün und Weiß' aussah. Er hatte mir etwas erzählt, das mich bewegt hatte und ich überlegte, es auszuschmücken und aufzuschreiben. Vielleicht hatte einer der anderen Cafébesucher ebenfalls etwas zu erzählen, das es wert war, gelesen zu werden.

Als ich vor dem Krankenhaus stand, dessen Etagen sich bis in die Wolken erstreckten, hatte ich meine Schreibblockade überwunden. Ich wusste, wovon mein neues Buch handeln würde. Und mit ein bisschen Glück würde es mein erstes Werk in den Schatten stellen.

Einen Augenblick lang betrachtete ich mich in der Scheibe der Glastür. Meine blonden Haare lagen in sanften Wellen über meinen Schultern, meine Augen blitzten voller Leben. Ich fühlte mich wieder wie ich selbst.

Zufrieden betrat ich das Gebäude, der vertraute Duft von Desinfektionsmittel und Gummihandschuhen begrüßte mich. Ich hörte der Empfangsdame kaum zu, als sie meinen Namen aufschrieb und mir die Zimmernummer samt einer detaillierten Wegbeschreibung eintrichterte, die ich sowieso schon auswendig kannte.

Dankend machte ich mich auf den Weg zum Aufzug, fest entschlossen, meiner Mutter trotz meiner Vorfreude noch nichts von meiner Idee zu erzählen. Sie würde ich früher oder später mit dem fertigen Buch überraschen.

Grün Weiß - Unreife & LeereWo Geschichten leben. Entdecke jetzt