„Mickey, gehst du bitte nach vorne, ich muss eben eine Bestellung besprechen."
Clair stand im Eingang zur Backstube und hielt eine Hand vor das Telefon. Mit einem Nicken wies sie Richtung Theke und ließ mich mit meinem Schicksal alleine.
„Klar, nichts lieber als das." Genervt verdrehte ich die Augen. Nichts lieber als Kundenkontakt und den alltäglichen Krapfen-Berliner-Streit mit Herrn Rosenkohl. Hoffentlich war die Bestellung nicht zu groß. Wirklich Bock hatte ich nicht nächste Woche schon um fünf Uhr hier einzutrudeln... So toll fand ich Clair's dann doch nicht. Das einzig Gute an diesem Job waren die kostenlosen Brötchen. Die Kunden dagegen waren schlimmer als in jedem Supermarkt. Konnte ich doch nichts dafür, dass ein Brötchen jetzt verdammte fünfundvierzig Cent kostete!
Sobald ich vorne war, klingelte auch schon das Glöckchen über der Eingangstür. Lieber würde ich jetzt in der Backstube die Brezeln im Ofen beobachten und an meinem Handy scrollen, als die Studentin vor mir zu bedienen. Forschend betrachtete sie die Backwaren auf der Theke bis ihr Blick schließlich auf mich fiel.
Ein freundliches Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Mickey? Ich wusste gar nicht, dass du hier arbeitest. Beim Bäcker hatte ich dich irgendwie nicht erwartet." Sie legte ihren Kopf leicht schief und musterte mich. Was sollte das denn jetzt heißen? Leider schien sie mich auch noch zu kennen, denn ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wer sie war...
„Äh." Nicht wissend, was für eine Antwort sie jetzt von mir erwartete, wischte ich mir das Mehl von der violetten Schürze. So hatten meine Hände wenigstens etwas zu tun. Das war ja mal wieder einfach mein Glück.
Beim längeren Betrachten tauchte ihr Gesicht in meinen Erinnerungen zur Erstiwoche auf, ihr Name jedoch nicht. Ich hatte mit ihr auf der Stadtrallye nur wenig Kontakt gehabt, und das vielleicht auch etwas zu betrunken. Vage erinnerte ich mich daran, wie wir am Sammelplatz ineinandergelaufen waren. Mit zwei Bier, einem Wodka-O und einigen an Shots intus, war das aber auch alles, was ich noch wusste. Dass ich wohl beim Asiaten Nudeln bestellt und die Hälfte der Box beim Torkeln einfach verloren hatte, wurde mir nur von Jihe erzählt. Die war vernünftig genug gewesen, nach einem Shot aufzuhören.
„Mariella? Wir haben zusammen unser Kogniseminar?" Die Studentin vor mir zog mich zurück in die Realität. Hinter die Verkaufstheke. In den Smaltalk... Sie schnaubte. Ob das nun aus Belustigung oder Ärgernis war, konnte ich nicht wirklich deuten. Richtig erwarten, dass man jeden in seinem Studiengang kannte, konnte sie von mir aber auch nicht. Befreundet war ich mit zweien, Namen kennen tat ich vielleicht von zwanzig von den insgesamt über 100 Psychologiestudierenden aus unserem Jahrgang. Und dass, wenn's hoch kam.
Ich räusperte mich „Mariella... Ja, sorry, ich bin nicht so der beste mit Namen und meine Aufmerksamkeit gilt da eher dem Freiser." Ich wollte mit der Hand durch meine Haare gehen, hielt jedoch in der Bewegung inne. Es war vielleicht nicht die beste Idee, als Bäckereiverkäufer seine Handflächen mit Schuppen und Kopfhautsekreten zu beschmieren.
„Was kann ich dir geben?" Wieder in meine professionelle Rolle schlüpfend und die Schalen des Studenten irgendwo in meinem Hinterkopf vergrabend, zog ich einen Plastikhandschuh über. Während der Arbeit wollte ich mit meinen Gedanken ganz weit weg vom Freiser sein. Es schauderte mir schon, wenn ich nur an dieses grimmige Gesicht mit der Hexagonbrille dachte. Sein Kugelschreibergeklicke verfolgte mich bis in meine Albträume.
„Äh, ja..." Ich schien sie mit meinem plötzlichen Themenwechsel etwas aus der Bahn geworfen zu haben. Smaltalk war nicht wirklich mein Lieblingszeitvertreib. Vor allem nicht mit Leuten, die ich nicht kannte. Die Sekunden der Stille zwischen uns wurden langsam awkward.
Stände statt Mariella einer meiner Brüder vor mir, würde das hier gerade ganz anders aussehen. Aber ich konnte eine Kundin schlecht anmeckern, dass sie sich jetzt endlich mal entscheiden und auf die Preise schauen soll. Würde ich nicht bei Clair arbeiten, würde meine WG sich wohl nur von Toastbrot ernähren. Wie aufs Stichwort hallte ein dumpfer Knall durch die zitternden Wände des Altbaus. Das war garantiert Jerry. Es war immer Jerry. Wer sonst machte so viel Scheiße im Leben, wie das Mittelkind?
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Das Geheimnis des Seelenfängers
Paranormal"Nein, ich will nicht!" Jerreds Gequengel drang aus dem Wohnzimmer an meine Ohren. Murrend drehte ich mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht in meinem wunderschönen Kissen. "Komm schon, weck jetzt bitte Mickey, sonst kommen wir noch zu spät." M...