"Was gibt es denn?", fragt er, als ich die Küchentür schließe. Ich nehme mir noch eine weitere Sekunde, um abzuwägen, ob ich ihm davon erzählen soll. Mat gibt sich sehr viel Mühe und es wird Zeit, ihm entgegen zu kommen.
"Ich hatte heute einen Brief vor meiner Wohnungstür. Er ist von Etienne", beginne ich. Mat will gerade etwas sagen, doch ich komme ihm zuvor. "Darf ich erst zu ende sprechen?" Er lehnt sich gegen die Arbeitsfläche und nickt mir zu. Und dann erzähle ich ihm den groben Inhalt und dass Etienne zu wissen scheint, dass ich nun alleine in der Wohnung lebe. Während ich rede, beißt Mat fest auf seinen Unterkiefer und fährt sich mit der linken Hand über sein Kinn.
"Was denkst du?", frage ich ihn, als keinerlei Reaktion von ihm kommt. "Willst du eine ehrliche Antwort?" Ich nicke und halte mich an einem der Essstühle fest. "Ich will nicht, dass du da länger wohnst", gesteht er. "Wenn man mit jemandem verwandt ist, ist es manchmal schwer, Dinge zu sehen. Er hat dich schon mal in Gefahr gebracht und wir kennen seine Grenzen nicht."
Nun bin ich diejenige, die keinerlei Reaktion zeigt und nach kurzer Zeit, ergänzt Mat seine Aussage. "Ich kann so viele Leute schicken, die auf dich aufpassen sollen, und er wird es trotzdem in dieses verdammte Haus schaffen."
"Es war doch nur ein Brief", beschwichtige ich. "An einem Tag wie heute kann es doch sein, dass er nur an seine Schwester gedacht hat und nicht um alles drum herum"
"Und woran denkt er beim nächsten Mal, wenn er vor deiner Tür steht und kein Feiertag ist? Dass er diesmal dich als Druckmittel nimmt statt Steph?" Trotz allem, was passiert ist, scheine ich naiv genug zu sein, um zu denken, es würde diesen Schritt niemals gehen.
"Du bist zu gut, du denkst zu gut von anderen...", mischt Mat sich in meine Gedanken ein. Doch als ich ihn ansehe, sehe ich kein wütendes, sondern ein trauriges Gesicht. Sofort steigt auch in mir eine Trauer hoch, die ich nicht erklären kann. "Mat, was ist los?", frage ich ihn und komme näher.
"Mir ist viel bewusst geworden in letzter Zeit, aber das ist jetzt nicht wichtig.", winkt er ab und der Gesichtsausdruck verschwindet so schnell, wie er gekommen war. "Ich möchte nicht, dass du weiter in der Wohnung lebst.", wiederholt er. "Ich weiß aber auch, dass es gerade für dich keinen Grund gibt, auf mich zu hören, zumindest bei sowas..." Dann steht er auf und geht an mir vorbei. "Deshalb ist es deine Entscheidung, ob du mir vertraust und mich das regeln lässt oder ob du dort bleibst und wir abwarten, was passiert."
Ich bleibe noch eine Weile in der Küche und denke darüber nach. Ich darf nicht vergessen, dass Etienne mich mit einem riesigen Haufen Probleme alleine gelassen hat und Mat mich aufgefangen hat. Wenn er es nicht getan hätte, hätte Etienne mir heute wahrscheinlich gar keinen Brief mehr schreiben können - ich will mir nicht vorstellen, wo ich dann wäre.
Bevor ich zu den anderen gehe, rauche ich eine Zigarette im Innenhof. Langsam beginnen meine Füße zu schmerzen auf den hohen Schuhen, aber bald würde es etwas zu essen geben und ich könnte sie heimlich unter dem Tisch ausziehen.
Im Wohnzimmer herrscht eine fröhliche, ausgelassene Stimmung. Durch die vielen Unterhaltungen entsteht ein Strudel aus Stimmen, durch die man kein Wort mehr versteht. Ich stelle mich an den Kamin und wärme mich auf, verstaue die Zigaretten in meiner Tasche und beobachte Lenny, der gerade ein paar Lebkuchen verdrückt. Er scheint hier angekommen zu sein. Als ich erfahren habe, was hier los ist und dass Lenny keine andere Wahl hatte, als das zu tun, was Mat von ihm verlangt, habe ich sein gequältes Gesicht gesehen. Ich habe Mat alles mögliche zugetraut und dass ihm Lenny nicht wichtig wäre, aber nun sitzen wir hier, alle in einem Raum und man könnte fast denken, hier hätten sich Freundschaften gebildet.
Ich baue Blickkontakt zu Mat auf, der sich mit Parker auf der anderen Seite des Raumes unterhält, und signalisiere ihm, zu mir zu kommen. Es dauert nur wenige Minuten, dann kann er sich von dem Gespräch lösen.
"Ist dir kalt?", fragt er, während er zu mir gelaufen kommt. "Ich war kurz draußen, eine Rauchen", erkläre ich. "Ich hoffe, du warst im Innenhof?" Vor dem Haus wäre es gefährlicher. "Ja, natürlich.", sage ich, ohne ihn anzusehen.
"Wo soll ich hin?", frage ich und es dauert ein paar Sekunden, bis Mat versteht, was ich damit sagen möchte. "Wir haben beide Fehler gemacht, ich habe mich furchtbar benommen, doch gerade klappt das alles wirklich gut, oder nicht? Ich vertraue dir, ich lasse dich das regeln..." Sage ich und merke, wie sehr in das entwaffnet. Er mustert mich, seine Augen wandern langsam zu meinem Gesicht und er atmet tief aus.
"Wir sollten wirklich erst über alles reden, wenn das vorbei ist...", beginnt er. "Aber ich will dich bei mir haben, ich kann am besten auf dich aufpassen, wenn du hier bist. Natürlich bekommst du dein eigenes Zimmer, wir haben hier noch eins, das sogar ein eigenes Bad hat, dann musst du es dir nicht mit den ganzen Idioten teilen."
"Okay", ist das einzige, was ich sage und eine Aufregung steigt in mir hoch. "Okay?", hakt er nach und ein leichtes Lächeln huscht über seine Lippen. "Okay", wiederhole ich.
Wir sehen uns so tief in die Augen, dass wir uns darin verlieren. Wir nehmen nicht mehr wahr, was um uns herum geschieht und Mat legt seine Hand in meinen Nacken. Ich streiche ihm über den Arm. Er will vernünftig sein, doch er kann es nicht und dann zieht er mich zu sich. Wir küssen uns, wie lange, das weiß ich nicht. Doch als wir aufhören und uns umsehen, scheint keiner etwas davon mitbekommen zu haben.
"Frohe Weihnachten", flüstert er und geht zurück zu Parker, der in der Zwischenzeit mit Milo ein paar Shots getrunken hat.
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Etienne - My Brother and Burden
Fanfiction1. Teil: Matthew - My Guardian And Guilt Gerade fing alles an besser zu werden. Sie hat sich an ein Leben ohne ihn gewöhnt, sie hat sich mit Matthew versöhnt und die lang ersehnten Ferien stehen an. Doch dann steht er da: Etienne, ihr Bruder, der s...