Unangenehme Wahrheit

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Und während Mat mir alles von Anfang an erzählt und wir in eine Welt abtauchen, die mir bisher nur am Rande gezeigt wurde, scheint die Mauer zwischen uns langsam zu bröckeln. Erst läuft er im Raum auf und ab, fährt sich durch sein kurzes Haar und zieht seine Stirn kraus. Fast schon unmerklich und ganz nebenbei setzt er sich zu mir.

"Im Grunde ist das Dreieck zwischen Hitch, Etienne und mir schon länger existent. Wie du ja weißt, haben dein Bruder und ich uns bei einem Kampf kennengelernt. Wir haben uns gut verstanden, wenn auch oberflächlich. Ich hatte die Blinders noch nicht lange übernommen und war froh über jeden weiteren Kontakt... das nennt man in normalen Berufen wohl Netzwerken."

"Seine vielen Kontakte und Möglichkeiten haben mich oft überrascht, aber ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden dass er für Hitch arbeitet. Von dem Zeitpunkt an ging dann alles bergab." Er spielt mit einer Zigarette in der Hand herum. Vermutlich überlegt er, sie zu rauchen, aber Charlotte würde ihn dafür umbringen.

"Was ich dir jetzt sage, habe ich noch nie jemandem zuvor erzählt. Milo weiß es zwar, aber nicht von mir. Der Rest hat keine Ahnung..." Er atmet tief durch und mein Puls steigt ins unermessliche. Ich beiße meine Zähne unbewusst so fest zusammen, dass mein Kiefer schmerzt.

"Ich habe eine Schwester, sie heißt Christin und ist zwei Jahre jünger als ich.", sein Blick ist plötzlich ganz starr. "Sie ist vor ein paar Jahren in Hitch Fänge geraten." Tränen treten mir in die Augen, als ich realisiere, was er mir damit sagen möchte. Unwillkürlich nehme ich seine Hand und er lässt es zu. "Ich versuche sie seither zu finden. Ich weiß weder, wo sie ist, noch ob es ihr gut geht. Fuck, ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt."

"Mat, das tut mir so Leid.", flüstere ich. "Ich habe immer die Hoffnung, dass sie es rausgeschafft hat und sich irgendwo versteckt. Ich konnte ihre Spur eine Zeitlang verfolgen, doch dann ist sie abgebrochen."

"Aber dann kann es doch sein, dass sie fliehen konnte... oder?", frage ich. "Das hoffe ich.", nickt Mat.

"Der Clou ist, dass Hitch gar nicht weiß, dass sie meine Schwester ist. Ich musste also vorsichtig sein und durfte unter keinen Umständen auffliegen. Hätte er es erfahren, hätte er mich in der Hand gehabt und ihr wer weiß was angetan."

"Und jetzt kommen wir zu dem Teil, der dich vermutlich noch viel mehr interessiert...", seufzt Mat. Ich würde mich gerne rechtfertigen und sagen, dass das nicht stimmt, doch ich will ihn in seinem Redefluss nicht unterbrechen.

"Ich habe Etienne ab und zu beschatten lassen, auch an dem Abend, als sie den Unfall hatten und die Tasche verschwunden ist. Meine Leute haben die Tasche gefunden und durchsucht. In der Tasche befinden sich Drogen, sowas wie K.O Tropfen und Liquid Ecstasy, und Ausweise."

"Die Ausweise gehören den Frauen, die Hitch erpresst, damit sie für ihn...", er muss nicht weiter sprechen. "Der Ausweis meiner Schwester war auch dabei, allerdings wurde das Foto durch ein anderes ersetzt. Ich weiß also nicht, ob meine Spur zu ihr die Richtige war oder ob ich einer Frau gefolgt bin, die den Namen meiner Schwester benutzt hat."

Mein Kopf droht zu platzen. Ich stelle mir vor, wie die Situation damals gewesen sein muss.

"Ohne die Ausweise kann Hitch diese Frauen nur bedingt arbeiten lassen, was schon mal ein kleiner Sieg bedeutet. Er setzt alles daran, sie zu finden und dein Bruder könnte mich auffliegen lassen, wenn er das nicht sogar schon getan hat. Ich weiß, dass er die Tasche bei uns gesehen hat, das ist mir in den letzten Tagen bewusst geworden."

"Wieso bist du damit nicht zur Polizei gegangen?", frage ich und reibe mir über die Stirn. In der anderen Hand halte ich immer noch die seine. Er schnaubt lachend auf. "Weil wir nicht wissen, wem wir bei der Polizei trauen können. Einige der Mädchen haben sich mal dem falschen Polizisten anvertraut und sind auf merkwürdige Weise verschwunden."

"Ich fasse es nicht.", platzt es aus mir heraus. "Aber was... was hat Etienne alles getan? Hat er etwas mit deiner Schwester zu tun?"

"Er hat das ganze Geld und den Einfluss schon genossen, Julie. Er war zwar nie direkt an allem beteiligt, eher ein Handlanger, aber das heißt nicht, dass er nicht wusste, was genau vor seiner Nase abgeht. Glaubst du nicht, er hat mal in die Taschen geschaut? Oder sich gewundert, wieso die Frauen so verängstigt sind?"

Ich antworte nicht, denn ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. "Ich will nicht glauben, dass er das wusste.", gestehe ich. Mat zieht seine Hand von mir weg und ballt sie zu einer Faust. "Das kann ich mir denken, aber dann werden dir die Gerüchte nicht gefallen."

"Was für Gerüchte?"

Mat lehnt sich nach hinten. "Es gibt das Gerücht, dass dein Bruder eine von Hitch Mädels geschwängert hat. Auch von ihr gibt es keine Spur. Es war nur zum Teil meine Schuld, dass er verschwunden ist."

Nach einer stillen Minute kann ich nicht anders, als zu lachen. Ich lege meine Hände auf meine Wangen und lache. "Ich bin gefangen in meinem persönlichen Albtraum. Träume ich gerade?", frage ich, als ich meinen Kopf zu Mat drehe. "Also wenn, dann befinden wir uns beide in dem selben Albtraum."

Etienne - My Brother and BurdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt