Endlich halte ich sie in meiner zitternden Hand. Die Tasche, die mir all meine Fragen beantworten könnte. Sie ist auf jeden Fall verdammt schwer.
Ich greife gerade nach dem Verschluss, als sich mir Schritte nähern. Ruckartig drehe ich mich um und schaue in ein Augenpaar, dass mir nur allzu bekannt vorkommt. "Lenny?!"
Er sieht nicht überrascht aus mich zu sehen und lehnt sich gegen die Schließfächer. "Was machst du hier?", frage ich weiterhin verwirrt darüber, ihm nach so langer Zeit genau hier zu begegnen.
Er seufzt. "Ach Julie, wenn du doch nur wüsstest." Dann betrachtet er die Sporttasche. "Das ist nicht deine Tasche, oder?" Ich schüttle den Kopf. "Julie, komm mit mir mit. Ich erkläre dir alles." Ich kneife prüfend die Augen zusammen, irgendetwas stimmt hier nicht.
"Was machst du hier?", frage ich erneut. Kurz ist es viel zu still um uns herum, bis ich zu der Tasche greifen will. Lenny greift mein Handgelenk und hält es fest. "Das kann ich dich nicht tun lassen." Seine Stimme klingt traurig und doch bestimmend. "Lass mich los.", sage ich eindringlich. "Das geht nicht, tut mir Leid." Tränen steigen mir in die Augen. "Lenny..."
Er lässt mich los und hebt die Tasche an, stellt sie wieder in das Fach und schließt die Tür. Auffordernd hält er mir die Hand hin, doch ich werde ihm den verdammten Schlüssel nicht geben. "Bitte zwing mich nicht dazu." Er schüttelt den Kopf und ich sehe, wie ihn das quält. Ein kleiner Hoffnungsschimmer lässt mich glauben, ich könnte diese Situation noch retten.
"Was hat Mat gegen dich in der Hand?", frage ich und mir bricht die Stimme, weil ich realisiere, dass Mat die ganze Zeit wusste, wo Lenny sich aufhält. "Das kann ich dir nicht erklären, aber bitte zwing mich nicht dazu, dir den Schlüssel abzunehmen. Ich will dir nicht wehtun, Julie, aber ich muss den Schlüssel haben." Ich schüttle energisch den Kopf und gehe ein paar Schritte zurück.
"Tut mir Leid, aber den kann ich dir nicht einfach überlassen.", dann renne ich los in Richtung Ausgang, ohne wirklich darüber nachzudenken, was ich eigentlich tue. Es dauert nicht lange, dann holt Lenny mich ein und packt mich. Ich trete um mich und schreie laut. doch das bringt nichts. Er nimmt den Schlüssel aus meiner Tasche, zieht mich mit sich und schließt das Fach ab.
Ich setze mich auf den Boden und beginne zu schluchzen. Lenny will mir aufhelfen, doch ich schlage seinen Arm weg. "Wer bist du eigentlich?", zische ich. In seinen Augen bilden sich ebenfalls Tränen. "Ich erkläre dir alles. Ich bin immer noch dein Freund, Julie. Bitte komm mit mir mit. Du wirst das alles irgendwann verstehen, ich verspreche es dir."
Wie in Trance folge ich ihm. Er dreht sich immer wieder um, um sicherzugehen, dass ich noch hinter ihm bin. Wir setzen uns in sein Auto und fahren ein Stück ohne ein Wort zu reden. Ich zittere immer noch und ab und zu überkommt mich die Panik, wohin er mich wohl bringt. Ich könnte nicht wieder zu Mat, nicht in das Gemeinschaftshaus. Das würde ich nicht ertragen und er würde mich wohlmöglich fertig machen.
"Ich bringe dich nicht zu den anderen.", flüstert Lenny, als ob er meine Gedanken lesen kann. Früher dachte ich, er könne das wirklich. "Wohin dann?", frage ich. "Zu Milos Schwester." Überrascht sehe ich ihn an. "Was... wieso?"
"Weil er es so will.", antwortet Lenny. "Du bist also einer von... von denen?" Er schnaubt verächtlich auf. "Ich hatte keine andere Wahl." Ich fasse mir mit zwei Fingern an meinen Nasenrücken und schließe die Augen. "Mat hat dich gezwungen, einer von den Blinders zu werden, obwohl wir in seinem Club Stoff verkauft haben?" Da stimmt doch etwas nicht.
"Ganz so einfach ist es nicht. Es lag nicht nur an ihm, meine Situation war aussichtslos. Ich hatte die Wahl, meinem Bruder entgültig nachzugeben oder ein paar Gefallen für Mat zu tun. Auch wenn ich das wohl niemals sagen wollte: Dein Freund war mir da lieber."
Bei dem Wort "Freund" zucke ich unwillkürlich zusammen. Wieso hatte Mat ihn nicht darüber aufgeklärt, dass wir nicht mehr zusammen sind?
"Sag ihm das bloß nicht.", witzelt er. Ich beiße mir auf die Lippen. "Wie sauer ist er?", frage ich nach kurzer Zeit.
Lenny runzelt die Stirn. "Ich weiß es nicht. Irgendwas ist anders an ihm, er rastet nicht mehr so schnell aus, glaube ich. Keine Ahnung, ob es an seinem Plan liegt oder ob er sein Agressionsproblem langsam in den Griff bekommt."
"Seinem Plan?", hacke ich nach. "Das kann ich dir nicht erklären, da musst du mit ihm sprechen. Aber nun sollten wir erstmal reingehen." Ich habe gar nicht bemerkt, dass wir auf die Auffahrt des mir nur allzu bekannten Haus gebogen sind.
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Etienne - My Brother and Burden
Fanfiction1. Teil: Matthew - My Guardian And Guilt Gerade fing alles an besser zu werden. Sie hat sich an ein Leben ohne ihn gewöhnt, sie hat sich mit Matthew versöhnt und die lang ersehnten Ferien stehen an. Doch dann steht er da: Etienne, ihr Bruder, der s...