Vorsichtsmaßnahmen

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Leichte Sonnenstrahlen wecken mich am nächsten Morgen auf. Ich habe lange gebraucht, um endlich in den Schlaf zu finden, nur um dann immer wieder von Schüssen zu träumen. Mat liegt neben mir, ihn scheinen die Sonnenstrahlen gar nicht zu stören. Er ist gestern bei mir eingeschlafen und ich glaube, diesmal war er derjenige, der die Nähe so sehr gebraucht hat. Er hat nicht viel von dem gestrigen Tag berichtet, doch auch wenn ich neugierig und nervös war, wollte ich nicht weiter nachfragen. Etwas in seinen Augen hat mir das Gefühl gegeben, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Fragen ist. 

Auf dem Nachttisch liegt seine Waffe. Ich betrachte sie und mir wird bewusst, in was für einer Gefahr wir uns gerade befinden. Er würde erstmal nicht mehr ohne sie herumlaufen, bis das alles vorbei ist. Was er mit dieser Waffe wohl schon alles angestellt hat? Und ob Etienne auch eine hatte, als wir noch wie normale Geschwister unter einem Dach gelebt haben? 

"Guten Morgen", murmelt er verschlafen. "Guten Morgen", antworte ich. "Wie spät ist es?", fragt er und dreht sich zur Seite. "9 Uhr", antworte ich. Er reibt sich die Augen und rechnet, wie lange er noch liegen bleiben kann. "Hast du gut geschlafen?", fragt er mich. "Ich habe etwas gebraucht, um einzuschlafen, aber es ging schon" 

Langsam setzt er sich auf, zieht mich zu sich und ich kuschle mich an. Es erstaunt mich immer wieder, wie vertraut er mir ist. Wenn er in meiner Nähe ist, bin ich ruhiger und trotzdem ist da dieses Gefühl im Bauch - das müssen diese Schmetterlinge sein. Er nimmt sein Handy und liest die Nachrichten, die er bekommen hat. 

"Ich werde gleich trainieren und muss dann zu Dylan und den anderen.", erklärt er. "Julie, ich habe eine Aufgabe für dich" Überrascht sehe ich ihn an. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, heute wieder den ganzen Tag in diesem Zimmer zu verbringen, so als hätte ich Hausarrest. "Du musst dir die Ausweise, die sich in der Tasche befinden, einprägen." Wie stellt er sich denn das vor? "Alle?", frage ich entgeistert. Er nickt. "Es ist wichtig. Du hast dafür ungefähr 3-4 Tage Zeit. Wichtig sind die Namen, die Geburtsdaten, Geburtsorte und präge dir Haarfarbe und markante Merkmale ein" 

Die Geister, die ich rief... Einfach nur im Zimmer herumzusitzen klingt auf einmal verlockend. "Okay, ich versuche es. Darf ich denn auch erfahren, wieso ich die alle auswendig lernen soll?" Er saß mittlerweile aufrecht im Bett. "Das erfährst du, wenn es soweit ist." 

Mit zerzausten Haaren legte er sich die Waffe wieder an, gab mir einen letzten Kuss und ging aus dem Raum. Er war sofort wieder in dem Arbeitsmodus. Frustriert stand ich auf und nachdem ich geduscht hatte, war Mat bereits verschwunden. Erst nach dem Frühstück bemerke ich, dass er die Tasche mit den Ausweisen auf mein Bett gelegt hat. "Dann wollen wir mal" Mit meinem Kaffee in der Hand setze ich mich auf den Boden, vor mir die ersten ausgebreitet. 

Es war schwerer als ich dachte, doch ich hatte mir mittlerweile ein System überlegt. Eselsbrücken waren wirklich eine gute Erfindung. "Das ist Lara Brandt, die in Ohio geboren ist und drei Jahre älter ist, als ich. Ihr Pin ist ihr Geburtstag 1304.", plappere ich vor mir her. "Aha, wo ist denn diese Lara Brandt?" Erschrocken sehe ich in Richtung Tür. Milo lehnt sich amüsiert gegen den Türrahmen und verschränkt die Arme. "Ich soll die Ausweise auswendig lernen - warum auch immer." "Ich weiß. Ich sitze im Büro gegenüber und höre dich die ganze Zeit diese Sprüche aufsagen", zieht er mich auf. "Willst du auch einen Kaffee?" 

"Ja gerne", sage ich überrascht. Kurz darauf bringt er mir eine Tasse und geht aus dem Zimmer. "Milo?", rufe ich ihm hinterher. "Ja?" Er dreht sich um. "Hat Mat alles im Griff?" "Immer", antwortet er nur. 

Es müssen ein paar Stunden vergangen sein, als ich aufstehe, um mir die Beine zu vertreten. Mein linker Fuß ist eingeschlafen und ich spüre rein gar nichts, wenn ich drauf trete. "Ist das ein ekliges Gefühl", schimpfe ich. Außerdem tut mir alles weh und kalt ist mir auch. Ich beschließe, eine Runde spazieren zu gehen und danach einen heißen Kakao zu trinken. 

Als ich meinen Teppich großen Schal anziehe, steht Milo plötzlich wieder vor mir. "Du hast es heute damit, dich anzuschleichen, oder?", frage ich erschrocken. "Du bist nur in Gedanken.", brummt er. "Wohin willst du?" "Spazieren, einfach ein bisschen an die frische Luft" "Hat Mat dir nicht gesagt, dass du nicht rausgehen sollst?" "Ich will doch nur einmal um den Block. Ich kann nicht ewig hier sitzen, nächste Woche habe ich sowieso wieder Schule" Ob Mat daran überhaupt gedacht hat? 

Milo atmet genervt ein und wieder aus, dann nimmt er seine Stiefel und seine Jacke. "Was machst du?", frage ich irritiert. "Ich komme mit, du Nervensäge" 

Wir gehen gemeinsam raus und der kalte Wind pfeift mir um die Nasenspitze. "Wieso magst du mich eigentlich nicht?", frage ich. "Wer sagt, dass ich dich nicht mag?" "Du, immer wieder zwischen den Zeilen. Am Anfang warst du ganz anders..." Ich erinnere mich noch daran, wie aufgedreht Milo eigentlich war. Ständig gab er einen unangebrachten Kommentar ab und ich konnte an Silvester sehen, dass er auch immer noch so war - nur nicht, wenn ich dabei war. 

"Ich mag dich nicht nicht", begann er, "Ich denke nur, eine gewisse Distanz zu all dem hier hätte dir besser getan" Hatte Milo sich etwa Sorgen um mich gemacht? Das war mit meinem Bild von ihm kaum vereinbar.  

Etienne - My Brother and BurdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt