Abgründe

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"Dann erzähl mir endlich, was hier los ist und was Mat angeblich getan haben soll.", herrsche ich ihn an. Ich kriege bereits Kopfschmerzen von seinen wagen Äußerungen. Etienne kommt einen großen Schritt auf mich zu. Mit nervösen Augen fixiert er mich, knackt mit seinen Fingern. "Mat und ich kennen uns viel besser, als nur durch so einen beschissenen Kampf, das war nur der Anfang von allem.", beginnt er.

"Ich war immer pleite, das weißt du. Alles, was ich legal verdient habe, habe ich sofort für die Miete, für Essen oder für deine Klassenfahrt im letzten Jahr abgegeben. Ich war es Leid, immer zu arbeiten und nichts davon zu haben.", seufzt er. Ihm ging es da nicht anders als mir die letzten Monate. Ich wusste nicht, wie hart es wirklich für ihn war, bis ich selbst an seiner Stelle war. Es ist so frustrierend und weckt dunkle Gefühle in einem. Wie oft lag ich abends im Bett und habe mich gefragt, was ich hier eigentlich tue und wieso Maman selten etwas tut, damit wir unsere eigenen vier Wände behalten können.

"Ich kenne da diesen Typen, TJ, der sich ab und an etwas dazu verdient." "Etwas dazu verdient?", frage ich. "Ja, du weißt schon. Stoff verkaufen, Kämpfe, Dinge von A nach B bringen.", erklärt er mit verzogener Miene. "Durch ihn bin ich dort hineingeraten. Am Anfang war es super. Ich habe zwei weitere Stunden am Tag gearbeitet und dreimal so viel Geld gemacht. Hitch lernte ich nach nur zwei Monaten kennen. Ein ziemlich ekliger Typ, der mir nochmal mehr Geld dafür bot, Dinge von A nach B zu bringen."

"Und was genau waren diese Dinge?", frage ich angewidert. "Das wusste ich meist nicht. Drogen und so'n scheiß..." Etienne verschwieg mir etwas, da war ich mir sicher. "Jedenfalls ging eine Überfahrt schief. Wir bauten einen Unfall und die Tasche, die Hitch uns gab, landete in einem Fluss. Wir suchten und suchten, aber konnten sie nicht finden. Gott, ich bin in diesen scheiß Fluss gesprungen, mitten in der Nacht."

"Die Tasche war jedenfalls weg. Wir hatten keine Ahnung, wie wir das erklären sollten. Hitch fackelt nicht lange, musst du wissen." "Ist mir bereits bekannt.", entgegne ich trocken. Etienne zuckt kurz zusammen. "Wir sind zurückgefahren und haben bis zum nächsten Morgen gewartet. Ich habe kein Auge in dieser Nacht zugetan. Doch als wir es ihm beichten wollten, haben wir bereits die ersten Drohnachrichten von ihm bekommen. Er wusste sofort, dass seine Ware nicht dort angekommen war und dachte, wir hätten uns damit aus dem Staub gemacht."

"Schön und gut, aber was hat Mat nun damit zu tun?", frage ich.

"Ich habe Mat an diesem Tag kontaktiert. Wir haben öfter gegeneinander gekämpft, aber wir mochten uns. Der erste Kampf lief völlig aus dem Ruder, wie du vielleicht schon weißt, aber danach wurde es immer besser. Wir entschieden uns irgendwann, zusammen zu arbeiten, um die Wetten zu manipulieren und mehr Geld damit zu machen. Jedenfalls ging er ans Telefon und war total abgehetzt. Er sagte so etwas wie: Wir klären das später." Nachdenklich geht er in meinem Zimmer auf und ab, stützt seine linke Hand unter sein Kinn.

"Da ich nicht länger warten konnte, habe ich mich auf den Weg zu deren Haus gemacht. Die Tür stand merkwürdigerweise offen uns als ich eintrat, sah ich sie in die Küche... mit der Tasche, die wir am Vortag verloren hatten." Ein unangenehmer Schmerz durchläuft meinen ganzen Körper. Tausend Gedanken prasseln gleichzeitig auf mich ein. War Mat etwa schuld daran, dass Etienne mich allein gelassen hatte? "Aber...", ist das einzige, das ich herausbringe.

"Keine Ahnung, wie genau das abgelaufen ist, aber sie hatten die Tasche und es klang nicht so, als würde Mat sie mir zurückgeben wollen. Ich hörte, wie sie erstmal den Ball flach halten wollten und dass es sicherer sei, die Tasche woanders hinzuschaffen." Ich schüttle meinen Kopf, der vermutlich gleich explodiert. "Das macht doch alles keinen Sinn."

"Oh doch, Julie, das macht es. Ich wusste, dass er mir nicht helfen würde und bin gegangen. Da kam bereits die nächste Nachricht von Hitch, dass sie auf dem Weg zu unserer Wohnung wären. Ich wusste, du warst in der Schule und Maman auf der Arbeit. Ich wollte das klären, aber mir blieb keine Zeit, also bin ich gegangen.", seine Schultern sacken zusammen und er lehnt sich gegen meinen Sessel.

"Und was hast du gedacht, würde dann passieren? Dass er nur kurz mal vorbeischaut und dann ist alles vergessen, weil du ja nicht dort bist?" Tränen schießen mir in die Augen, aber ich nehme mir fest vor, nicht zu weinen. "Ich habe die ganze Zeit versucht, das zu klären. Ich war Tag und Nacht damit beschäftigt, eine Lösung zu finden. Ich habe alle meine Kontakte zusammen getrommelt und..." "Warum bist du plötzlich wieder hier?", unterbreche ich ihn.

Ich weiß nicht, ob es die Tatsache ist, dass er gerade mein Weltbild der letzten Monate zerstört oder dass er so einfältig war zu glauben, dass abhauen alles besser machen würde, aber ich bin extrem sauer auf ihn und muss mich beherrschen, ihn nicht anzuschreien. "Weil ich weiß, wo Mat die Tasche aufbewahrt und gehört habe, dass ihr nun zusammen seid oder sowas...", angewidert mustert er mich.

Meine Fingernägel bohren sich seit geraumer Zeit in meine Handinnenflächen und langsam realisiere ich den Schmerz. "Ich... nein, das ist mir alles zu viel.", stottere ich und setze mich wieder auf mein Bett. Etienne setzt sich neben mich und greift nach meiner Hand. "Julie, ich kann das alles wieder gut machen, aber Mat ist nicht der, für den du ihn hältst. Mach das Licht aus.", sagt er und zeigt auf die Lampe auf meinem Nachttisch. Verwirrt sehe ich ihn an, doch er zeigt nur wieder auf die Lampe, also lösche ich das Licht.

Er nimmt im Dunkeln meine Hand und führt mich zu meinem Fenster. Draußen steht ein schwarzer Van auf der gegenüberliegenden Straßenseite. "Das sind Mats Leute. Wusstest du, dass sie dort stehen?" Ich schüttle den Kopf. "Die stehen da, seit dem du hier angekommen bist. Ich habe mich von der anderen Seite durch ein Kellerfenster gequetscht, um mit dir zu reden. Du hättest nicht einmal gemerkt, wenn sie mich gesehen und mitgenommen hätten. Ich wette, Mat hätte dir nicht einmal etwas gesagt..."

Etienne - My Brother and BurdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt