Das Schließfach

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Ein letzter Blick in den Spiegel. Ich nicke mir selbst zu, atme durch und nehme dann meine Tasche und die gefälschte Einverständnisverklärung. Eine Ewigkeit habe ich heute gebraucht, um das richtige Outfit zu finden. Erst habe ich an etwas schickes gedacht, sogar eine Bluse, bis mir auffiel, dass das nichts mit den Blinders zu tun hatte. Damit wäre ich vermutlich sofort aufgeflogen. Also entschied ich mich für eine Jeans und Mats Pullover, der sich noch in meinem Besitz befand.

Der Typ, dem die Schließfächer gehören, wird das Logo sehen und erkennen und somit keine Zweifel mehr haben.

Die Fahrt in den Nachbarort ist ungefähr so lang wie die gestrige. Ich überlege mir derweil, was ich zu dem Typen sagen werde, wenn er mich fragt, wieso ich anstelle von Mat da bin. Hoffentlich kommt er nicht auf den Gedanken, ihn anzurufen oder schickt mir wieder nach Hause, weil er mir nicht glaubt. Ich wackle unruhig mit meinem Bein.

Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich mein eigenes Spiegelbild im Hellen. Meine Augenringe sind dunkel, kein Wunder, denn ich habe kaum geschlafen. Ich war um vier Uhr zu Hause und das Adrenalin und meine Gedanken an Mat wollten mich einfach nicht einschlafen lassen.

Die Haltestelle befindet sich gegenüber des Ladens, in dem sich das Schließfach befinden muss. Es sieht ziemlich runtergekommen und alt aus, dem Schild fehlen ein paar Buchstaben. Ob dieses alte Ding wirklich noch geöffnet hat?

Ich wechsle die Straßenseite, um mehr erkennen zu können und tatsächlich sitzt drinnen jemand hinter dem Tresen. Mein Herz pocht wie verrückt. Langsam atme ich ein und wieder aus. Ich darf jetzt nicht die Nerven verlieren. Dann laufe ich einfach los.

Als ich den Laden betrete, ertönt eine laute Klingel, die mich zusammenzucken lässt. Der Typ, dessen obere Haarpartie man bisher nur sehen konnte, lugt auf und als er mich sieht, steht er auf. "Guten Tag, was kann ich für Sie tun?", fragt er freundlich. Er ist gar nicht so alt, wie ich dachte, auch wenn er schon graue Haare hat. Er ist fürchterlich blass und man sieht viele kleine Adern in seinem Gesicht.

"Guten Tag.", sage ich und muss mich räuspern, weil meine Stimme versagt. "Ich würde gerne für einen Freund etwas abholen." Er mustert mich von oben bis unten. "Haben Sie den Schlüssel und die Einverstädnis dabei?"

Ich nicke eifrig und halte ihm den Zettel mit zitternder Hand entgegen. Ich nehme den Schlüssel aus meiner Tasche und halte ihn hoch, um zu zeigen, dass ich auch daran gedacht habe. Er holt eine Brille hervor und liest sich den Zettel durch, auf dem ich in Mats Fake-Handschrift seine Einverständnis notiert habe.

Er legt den Zettel auf den Tresen und fixiert mich mit seinen Augen. Kurz ist es still um uns und ich bekomme Panik. Hat er mich durchschaut?

"Äußerst ungewöhnlich, dass er jemanden schickt, um etwas abzuholen.", murmelt er, ohne den Blick von mir abzuwenden. "Um welches Schließfach geht es denn?"

"156", antworte ich rasch. Soll das etwa bedeuten, Mat hat hier mehrere Schließfächer?

Er beißt die Zähne zusammen und seine Kieferknochen bewegen sich. Er dreht sich um und ich mache mich auf alles gefasst. Sollte er zum Hörer greifen, werde ich einfach losrennen.

"Komm mit.", sagt er ohne mich anzusehen und zieht sich eine beige Jacke über. Ich brauche einen kurzen Moment, bis ich schalte. Er hat es mir also abgekauft. Dann trotte ich hinter ihm her.

Wir verlassen das Gebäude und gehen über den Innenhof zu einem weiteren Gebäude. Die Tür ist durch mehrere Schlösser gesichert, die er öffnet und eine Alarmanlage.

Im Inneren befinden sich lauter Schließfächer. Wir gehen links herum und den Gang entlang. Die Fächer sind so hoch gestapelt, dass ich nicht darüber hinweg sehen kann. Immer wieder gehen weitere enge Gänge von dem unseren ab. Ich würde mich hier glatt verlaufen.

"Da wären wir.", sagt er und zeigt auf das Fach. "Denken Sie daran, es danach zu schließen. Ich warte an der Eingangstür auf Sie." Ich nicke.

Ich starre das Fach mit der 156 an. Da ist es also... Eine merkwürdige Angst überkommt mich. Die ganze Zeit wollte ich wissen, was es ist und jetzt, wo ich so nah dran bin, kriege ich Panik.

Es gelingt mir erst beim dritten Anlauf, den Schlüssel ins Schloß zu stecken. Ich drehe ihn und die Tür springt automatisch auf.

Da ist sie, die Tasche. Ich hole sie hervor und stelle sie auf dem Boden ab. Sie ist schwerer, als gedacht. Vorsichtig öffne ich den Reißverschluss und vergewissere mich erneut, ob auch niemand sonst in der Nähe ist.

Etienne - My Brother and BurdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt