Lügen

2.4K 77 2
                                    

Müde starre ich das Auto an. "Ich würde ja sagen, du sollst ihn nach der Wahrheit fragen, aber wenn er erfährt, dass wir beide gesprochen haben, wird er durchdrehen. Du musst für dich selbst entscheiden, zu wem du stehst.", fährt Etienne mit ruhiger Stimme fort. "Ich dachte, er wäre mein Freund, aber ich habe mich geirrt."

Mit langsam Schritten geht er in Richtung Tür. "Es tut mir Leid, was ich dir angetan habe, aber ich werde es wieder gut machen. Pass auf dich auf, bitte." Ich sehe ihm nach. "Wo willst du hin?" "Ich muss gehen. Das Licht in deinem Zimmer war zu lange an, sie werden Mat informiert haben." Und gerade, als er durch die Tür verschwinden will, halte ich ihn auf. "Du weißt, was Hitch mit diesen Mädchen macht, wozu er sie zwingt?", frage ich. Zögernd nickt er. "Er wollte das mit mir machen, Etienne. Wusstest du das?" Er beißt sich auf die Unterlippe und öffnet die Tür. "Das hätte ich nie zugelassen, lieber wäre ich gestorben." Er betritt den Flur und bevor er die Tür schließt, schaut er mir noch einmal in die Augen. "Er verschweigt dir einiges, Julie. Genau in diesem Moment." 

Ich starre ein paar Minuten die geschlossene Tür an, durch die er verschwunden ist. Zitternd drehe ich mich wieder zum Fenster und beobachte den Van. Die Straße wird von neuen Lichtern erhellt und kurz darauf bleibt ein dunkles Auto vor dem Van stehen. Als die Beleuchtung im Innenraum angeht, setzt mein Herz einen Moment aus. Es ist Mat. Er hat seine Cap zwar tief ins Gesicht gezogen, doch ich würde ihn immer erkennen. Als er aussteigt, schaut er direkt zu meinem Fenster und ich ducke mich schnell.

Ich schleiche mich zurück zu meinem Bett und lege mich hinein. Mein Handy leuchtet auf und ich weiß genau, wer mich anruft. Ich ringe mit mir, ob ich ans Telefon gehen soll; doch wenn ich nicht gehe, blökt er vielleicht die ganze Nacht vor meinem Haus. „Hallo?", frage ich so verschlafen wie möglich. "Julie?", fragt Mat am anderen Ende. "Was ist los?", ich versuche meine zitternde Stimme zu kontrollieren. "Ist alles in Ordnung bei dir?"

"Ja, was gibt es denn?" Ich höre ihn am anderen Ende seufzen. "War Etienne bei dir?" "Nein, sonst hätte ich dir doch geschrieben. Er denkt sicher, dass du auch hier bist. Ich habe schon geschlafen.", erkläre ich mit vorwurfsvollem Unterton. "Tut mir Leid. Ich kann nicht schlafen und wollte sicher gehen, dass bei dir alles gut ist." Seine Besorgtheit legt sich wie ein schwerer Stein auf meine Brust. "Es ist alles gut. Ich lege jetzt auf und schlafe weiter.", am Ende versuche ich weicher zu klingen, doch es gelingt mir nicht. Kurz ist alles ruhig. "Okay, schlaf gut." Dann legt er auf.

Ich warte einen Moment, bis ich mich wieder zum Fenster schleiche. Mat redet mit dem Typen in dem Van, verabschiedet sich von ihm und rast davon. Er ist sicher sauer, dass ich so reagiert habe, aber das ist mir gerade egal. Ich kann nur daran denken, dass er mir verschwiegen hat, dass er Etienne besser kennt. Vielleicht hat er recht und Mat verschweigt mir noch mehr...

Als ich aufwache, ist mein Zimmer hell erleuchtet und mein Kopf dröhnt. Ich schaue auf die Uhr: 09:13 Uhr. Ich war noch eine Ewigkeit wach, vermutlich bis um 4, und habe mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich machen soll. Ich habe gelauscht, ob das Auto vor der Tür wegfährt, doch das tat es nicht.

Ich schleppe meine müden Knochen unter die Dusche und anschließend versuche ich Mat zu erreichen. Natürlich geht er nicht an sein Telefon. Seufzend setze ich mich auf meinen Sessel. Als ich mich in meinem Zimmer umsehe, sehe ich erneut Etienne vor mir stehen. Es fühlt sich an, als wäre das gestern Abend nur ein Traum gewesen, doch meine Anrufliste verrät etwas anderes. Mir wird gerade erst bewusst, dass ich keine Möglichkeit habe, Etienne zu kontaktieren. Ich weiß weder, was er vorhat, noch wann er sich das nächste Mal melden wird - ob er sich überhaupt melden wird. Und wo wohnt er aktuell überhaupt?

Das ist alles frustrierend. „So eine scheiße.", fluche ich vor mich hin und reibe mir die Stirn. Als ich die Augen wieder öffne, erhellt Stephs Name meinen Display. Einen Anruf von ihr kann ich nun wirklich nicht gebrauchen. Normalerweise würde ich nun in der Schule sitzen. Sie wundert sich doch wohl nicht etwa, dass ich nicht da bin? Keine zehn Pferde würden mich da heute reinbekommen... die ganze Woche nicht. Jeder Mensch, der mir nahe steht, scheint mich früher oder später zu belügen. Was bringt es mir da, in die Schule zu gehen?

Etienne - My Brother and BurdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt