Die Rückkehr

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Die Ampel steht eine halbe Ewigkeit auf Rot, als sich Mats Finger in das Lenkrad krallen. Wie lange wir schon durch die Gegend fahren, weiß ich nicht. Inzwischen hat es angefangen zu regnen und ich betrachte die Regentropfen, die an der Fensterscheibe herunter laufen. Ich beobachte jeden einzelnen, der sich seinen Weg runter bahnt oder vom Fahrtwind zur Seite gedrängt wird.

"Bitte rede mit mir.", höre ich eine heisere Stimme sagen. Es war so lange still um uns, dass sich Mats Stimme wie ein Fremdkörper in meiner ruhigen Regentropfenwelt anfühlt. Ich drehe langsam meinen Kopf in seine Richtung, mein Nacken schmerzt bereits vom langen zur Seite schauen. "Wo sollen wir hin? Ich fahre dich überall hin." Auf seiner Stirn bilden sich so tiefe Falten, dass ich es wohl amüsant finden würde, wäre nicht gerade meine Welt zusammen gebrochen.

"Nach Hause.", ist das einzige, was meine Stimmbänder zulassen. "Sicher?", erwidert Mat. Es passt ihm nicht, weil er Angst hat, dass Etienne dort auftaucht. Ich hingegen hoffe darauf, dass er dort früher oder später erscheint. Das Aufeinandertreffen gerade war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Es war der falsche Ort, die falsche Zeit. Vielleicht können wir nochmal in Ruhe reden und er erklärt mir, was geschehen ist. Mat würde das nicht gefallen, deshalb behalte ich diesen Gedanken für mich.

"Ja, ich will einfach nur nach Hause." Abrupt tritt Mat auf die Bremse und wir bleiben am Straßenrand stehen. Ein Auto hinter uns hupt laut und Mat zeigt ihm den Mittelfinger, als der Wagen an uns vorbeifährt. Mit einer hochgezogenen Augenbraue sehe ich ihn an. "Du kannst nicht nach Hause, ich bringe dich zu Steph.", sagt er mit knirschenden Zähnen. "Warum fragst du, wohin ich will, wenn ich es dann sowieso nicht entscheiden darf?", seufze ich. Er atmet schwer ein uns wieder aus. "Also schön, aber wenn er dort aufkreuzt, schreibst du mir sofort, verstanden?" Ich nicke stumm.

Die Stimmung zwischen uns ist angespannt, als ich mich von Mat verabschiede. "Du schreibst mir sofort, ok?", fragt er erneut und ich nicke wieder. Manchmal sind Notlügen notwendig. Müde schleife ich mich aus dem Auto, das Treppenhaus hinauf und durch die Wohnungstür. Ich horche, ob Etiennes Stimme bereits zu hören ist, doch es ist alles ruhig.

Nach einer langen, warmen Dusche schmeiße ich mich in mein Bett. Ich klicke mich durch die Netflix-Tiefen, doch nichts scheint gut genug, um mich abzulenken. Die zahlreichen Nachrichten auf meinem Handy ignoriere ich. Ob man durch so eine Begegnung in einen Schockzustand fallen kann? Ich habe weder geweint, noch irgendeinen Schmerz verspürt, seit dem ich in das Auto von Mat gestiegen bin. Das einzige, woran ich denken kann, ist nochmal mit Etienne zu reden.

Ich schrecke hoch, als ich ein Knarzen im Flur höre. Ich muss eingeschlafen sein. Mein Laptop leuchtet noch und erhellt das ganze Zimmer. Ich schaue zur Tür und kann deutlich einen Schatten vor dieser erkennen. Ich richte mich auf und ehe ich das Licht einschalten kann, öffnet sich die Tür. Vorsichtig wird sie geöffnet und ich erkenne Etienne sofort. "Julie?", flüstert er leise.

"Etienne...", murmle ich und bereue, dass ich das Licht eingeschaltet habe. Meine Augen brauchen einen Augenblick, um sich daran zu gewöhnen.

"Schlägst du wieder auf mich ein, wenn ich mich dir nähere?", fragt er und verzieht seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Diese Situation kommt mir so merkwürdig vertraut vor, dass auch ich lächeln muss. "Kommt drauf an."

Er bewegt sich langsam durch den Raum und setzt sich neben mich. "Es tut mir Leid, dass ich vorhin so ausgerastet bin.", beginnt er. "Nein, mir tut es Leid. Ich war vollkommen neben der Spur, ich..." "Es ist ok, Julie. Du hast jeden Grund mich zu hassen.", unterbricht er mich. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihn nicht hasse, dafür ist mein Vertrauen zu angeschlagen. "Was ist passiert?", frage ich stattdessen. Er seufzt und lehnt sich auf beide Arme zurück. "Das ist schwer zu erklären, vielleicht irgendwann mal..."

"Dann geh.", antworte ich scharf. Er sieht mich irritiert an. "Wenn du mir nicht erklären kannst oder willst, wo du die letzten Monate warst und wieso du mich mit deinem Chaos allein gelassen hast, kannst du gehen." Ich schmeiße mich nach hinten auf mein Kissen und will gerade das Licht ausschalten, als er meine Hand nimmt und mich davon abhält. "Du bist nicht bereit für die Wahrheit." Eindringlich schaut er mir dabei in die Augen. "Bullshit.", schimpfe ich. Etienne steht auf und fährt sich über die Stirn.

"Glaub mir, du bist nicht bereit dafür. Du bist mit diesem Wichser zusammen, allein das ist ein Indiz dafür." Sein Blick schwankt immer wieder von mir zum Fenster und zurück. "Was redest du da?", frage ich irritiert. "Du willst die Wahrheit? Die erwachsene Julie will die Wahrheit. Na schön, Mat ist einer der Gründe, weswegen ich verschwinden musste."

Ich springe aus dem Bett und verschränke die Arme vor der Brust. Ich zittere vor Anspannung und Wut. "Das ist so traurig...", beginne ich. "Du hast so einen Hass auf die Welt, dass du das einzige zerstören willst, das mich die letzten Monate über Wasser gehalten hat. Hast du eine Ahnung, was ich alles für dich getan habe? Ich wurde deinetwegen verfolgt und sollte eine lächerlich Hohe Summe zahlen, die DU jemandem schuldest." Sein starrer Blick knickt kurz ein, doch dann fängt er sich wieder.

"Ich will gar nichts zerstören, ich will, dass du mir zuhörst. Hat Mat dir nie erzählt, dass wir uns kennen?" Zähneknirschend antworte ich, dass ich weiß, dass die beiden gegeneinander gekämpft haben. "Das ist das einzige? Das ist seine Version davon?", lacht er auf. "Das war nur der Anfang, Julie..."

Etienne - My Brother and BurdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt