Merkwürdiges Abendessen

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Ich spiele mit dem Essen auf meinem Teller herum, schiebe es von der einen Seite zur anderen. Charlotte hat Bolognese für uns gemacht. Wir sitzen seit einer gefühlten Ewigkeiten stumm am Esstisch. Glücklicherweise versucht sie nicht, die Situation aufzuheitern. Vermutlich ist es nicht das erste Mal, dass Blinders-Ärger an ihrem Tisch landet.

"Ich habe das Gästezimmer hergerichtet, dort kannst du heute Nacht schlafen.", unterbricht Charlotte das Schweigen. Die Erinnerungen an die letzte Nacht hier kommen hoch und mir wird übel. "Wir haben die Zimmer umgestellt und neu ausgestattet. Die jetzigen Schlafzimmer waren vorher unsere Büros." Ich nicke und versuche mich an einem schrägen Lächeln, weil ich ihre Bemühungen zu schätzen weiß, doch diese Erinnerungen lassen sich kaum dadurch verdrängen.

Als wir den Tisch abräumen, stehen Charlotte und ich allein in der Küche. "Was ist los bei euch?", fragt sie, als sie mir ein Tuch zum Abtrocknen reicht. "Ich weiß wirklich nicht, wo ich anfangen sollte, dir das zu erklären.", seufze ich und trockne das Glas ab.

Sie stützt sich auf der Arbeitsfläche ab und starrt auf die andere Seite des Raumes. "Irgendwann kommt jeder an diesen Punkt, der etwas mit ihnen zu tun hat."

"Wie meinst du das?", frage ich. Ich bin mir nicht sicher, ob sie das alles hier wirklich einschätzen kann. "Ich meine, dass es immer ein Ereignis gibt, dass das Fass zum Überlaufen bringt." Sie dreht sich zu mir. "Ich hab dieses Leben für meinen Bruder nie gewollt. Als ich damals erfahren habe, dass er den Blinders beitritt, habe ich weinend sein ganzes Zimmer verwüstet. Ich dachte mir, er würde keine zwei Jahre überleben können."

Es muss schlimm gewesen sein, das mit anzusehen und nichts tun zu können. "Bevor Mat alles übernommen hat, war es gefährlich für sie. Ich habe mir fast jede Nacht Sorgen gemacht und wenn ich draußen laute Geräusche hörte, habe ich mir alles mögliche ausgemalt. Dann kam der erste Anruf aus dem Krankenhaus nach ungefähr vier Monaten."

"Milo wurde verletzt?", frage ich. Sie schüttelt den Kopf. "Nein, nicht so wie du denkst. Milo hat sich bei einem Kampf schwer verletzt. Das war fast noch schlimmer für mich. Ich hatte immer Angst um ihn und dann hat er sich selbst, ganz freiwillig, in sowas begeben. Da habe ich den Kontakt zunächst abgebrochen, ich konnte das nicht mehr mit ansehen. Milo wurde immer verschwiegener, kam dauernd mit Verletzungen nach Hause und ich war mir nicht sicher, ob nicht auch manchmal Drogen nimmt."

Während sie davon erzählt, fangen ihre Augen an zu glänzen. Es muss eine furchtbare Zeit für sie gewesen sein, sie liebt ihren Bruder so wie ich. Oder zumindest so, wie ich es mal getan habe... "Wir hatten Monatelang keinen Kontakt, bis er das erste Mal aussteigen wollte."

"Milo wollte mal aussteigen?", hacke ich nach. Das kann ich mir bei ihm gar nicht vorstellen, so sehr wie er diese Macht genießt. "Ja, und das wie gesagt nicht nur einmal. Wir haben über alles geredet, dieses Mal hat er mir erzählt, was er dort macht, wieso er beigetreten ist. Ich wollte ihm helfen, auszusteigen, aber irgendwann habe ich verstanden, warum er das macht." Ich bezweifle, dass mir deren Geschichte wirklich weiter hilft.

"Ich habe es trotzdem nur schwer akzeptiert, aber das ist nicht das, worauf ich hinaus will.", fährt sie fort. "Den Jungs wurde beigebracht, absolutes Stillschweigen zu wahren und sich von Menschen zu distanzieren, die sie mögen, weil sie eine Schwachstelle sein könnten und dabei machen sie das alles doch genau für diese Leute."

"Auch wenn man manchmal das Gefühl hat, dass das alles zu nichts führt, dass es nur weh tut und man sie in ihrer Denkweise nicht ändern kann: Gib die Hoffnung nicht auf." Ich seufze. "Charlotte, das ist wirklich lieb von dir, aber...", doch sie unterbricht mich. "Den Verrat deines Bruder kann ich nur allzu gut nachempfinden. Verzeihe ihm nicht nur, weil er dein Bruder ist und pass auf dich auf.", ihre Augen suchen die meinen und als sich unsere Blicke treffen, nicke ich.

"Und zu Mat...", sagt sie und zieht eine Augenbraue hoch. "Ich glaube, es gibt niemanden da draußen, der ihn wirklich versteht. Mat gibt nicht viel von sich Preis, sodass man nicht genau weiß, wieso er in manchen Situationen so handelt, wie er es tut...", das kann sie laut sagen. "... aber er ist ein guter Mensch. Und er liebt dich, das habe ich bereits gesehen, als wir uns das erste Mal begegnet sind."

Ihre Worte tun mir weh. Mag sein, dass er mich mal geliebt hat, aber das tut er sicher nicht mehr, nachdem ich ihn erneut hintergangen habe. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu weinen. "Diesmal bin ich diejenige, die andere verletzt hat.", flüstere ich.

Charlotte nimmt mich in den Arm und dennoch versuche ich, die Tränen zu unterdrücken. "Du bist auch nur ein Mensch. Und wir Menschen tun manchmal Dinge entgegen unserer Prinzipien, wenn wir uns in die Ecke gedrängt fühlen." 

Etienne - My Brother and BurdenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt