2 - Farbenklänge

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Das Gemälde war ziemlich abstrakt und bestand aus vielen Farbfeldern, die allesamt ziemlich kalt und gräulich waren.

"Naja, was soll ich sagen?"

"Wie fühlt sich das Bild an?"

War das ein Test? Ich war echt verunsichert.

"Das sind nur so Farben", begann ich. "Die wirken... kalt?"

"Kalt? Mehr hast du dazu nicht zu sagen?"

Eigentlich hatte ich dazu echt nicht mehr zu sagen. Ich fragte mich, ob das ihr Bild war. Warum wollte sie gerade von mir eine Meinung hören? Um sie nicht noch mehr zu verärgern, sagte ich:

"Es ist sehr schön."

Sie seufzte genervt und hatte mich immer noch keines Blickes gewürdigt.

Ich sah mir das Bild genauer an und versuchte es auf mich wirken zu lassen, und dann fiel mir etwas ein:

"Ich könnte Ihnen vorspielen, wie sich das für mich anfühlt."

Sie drehte sich zu mir um, und im nächsten Moment passierte ganz viel, obwohl eigentlich nichts passierte.

Zum einen fiel mir auf, wie schön sie war. Ihr Gesicht sah gar nicht so böse aus, wie sie sich gab. Sie hatte hohe Wangenknochen, die ihre grünen Augen betonten und ein schönes Gesicht. Mit Sonnensprossen. Ihr Blick war düster, aber ich erkannte sofort, wie schön er sein könnte, wenn sie lachte. Sie war vielleicht Anfang 30. Aber sie wirkte älter, erfahrener. Ich dachte mehr, sie wäre vielleicht so etwas wie eine Piratin, die schon alle Weltmeere befahren und viele Abenteuer bestanden hatte.

Aber wichtiger war etwas anderes.

Als sie mich das erste Mal ansah, schaute sie mich nämlich überrascht an, gar etwas entsetzt. Als würde sie mich wiedererkennen.

Dabei war ich mir definitiv sicher, dass ich sie noch nie gesehen hatte. Und an ein solch markantes Gesicht hätte ich mich erinnert. Ganz bestimmt!

Ich glaube, ihr wurde selbst bewusst, dass sie mich anstarrte, und so machte sie einen Schritt zurück und ihre Miene weichte etwas auf. Sie deutete gar ein Lächeln an, und das war wirklich schön. Ich wünschte, sie würde mehr so lächeln.

"Wie meinst du das, du könntest es mir vorspielen?"

Ich spiele ein bisschen Klavier. Nicht gut, aber es ist mein Hobby, wenn mir langweilig ist oder ich mich einsam fühle. Deshalb hatte ich fast immer ein Keyboard dabei. Es schaute aus meinem Rucksack hervor, weil es so lang war. Es war so ein Midi-Keyboard mit 49 Tasten, das mit Batterien lief. Ich konnte es mit meinem Handy verbinden, und dann spielte es über mein iPhone die Musik ab. Meist hatte ich allerdings Airpods drin, wenn ich darauf spielte, um niemanden zu stören.

Das war so ein Tick von mir. Ein komisches Hobby, eine seltsame Angewohnheit. Ich war manchmal komisch. War einfach so.

Mittlerweile machte es mir auch nichts mehr aus, was die anderen Leute darüber dachten. Ich hatte schon allein in der hintersten Bank in einem Mecces das Teil ausgepackt und für mich vor mich hingespielt.

"Naja, ich könnte Ihnen vorspielen, wie sich das Bild für mich anfühlt, wenn Sie das verlangen."

Sie schaute mich an.

"Wenn ich das verlange?"

Ich muss zugeben, dass ich in der Situation etwas eingeschüchtert war, daher sagte ich das mit dem Verlangen. Ich hatte es nicht so gemeint. Sie konnte so etwas von mir ja nicht verlangen. Aber ich wollte ihre Stimmung heben, wollte, dass sie lächelte. Es war komisch, denn ich kannte sie ja nicht, und sie war mir gegenüber bislang nicht gerade nett gewesen.

Jedenfalls nahm ich das Keyboard heraus, verband es mit dem Handy, setzte mich auf den Hocker vor mir und spielte drei oder vier Moll-Akkorde, die das ausdrückten, was ich bei dem Bild empfand.

Frau Schwarz stand daneben, hörte zu und schaute gleichzeitig auf das Gemälde, und sie war ganz in Gedanken versunken und lächelte sogar ein wenig!

"Naja, so fühlt sich das für mich jedenfalls an."

"Du bist nicht wie die anderen!", sagte sie, als ich aufgehört hatte. Ich nahm an, mit den anderen meinte sie andere Schüler. Ich wusste allerdings nicht, was ich davon halten sollte.

"Synästhesie", sagte sie nur. "Manche Menschen drücken eine Sinneswahrnehmung durch eine andere aus. Es gibt Leute, die sehen Zahlen wie Farben. Du siehst eben Farben und Gefühle wie Töne!"

Hatte ich noch nie drüber nachgedacht, aber jetzt, da sie es sagte, hatte sie vielleicht Recht.

Ich ertappte mich manchmal dabei, wie ich dachte: "Ich fühle mich gerade wie ein verminderter D-moll Akkord." Meine Klassenkameraden konnten damit nichts anfangen. Sie hatten mich deswegen sogar ausgelacht. Wie gesagt, ich war eben komisch.

"Mal sehen, wie gut du mit deiner Synästhesie bist!"

Sie stellte sich ganz nah hinter mich und legte plötzlich eine Hand über meine Augen.

"Konzentriere dich nur auf deine Gefühle!"

Ich war mit der Situation total überfordert.

Frau Schwarz stand ganz nah hinter mir. Ich spürte ihren Bauch an meinem Rücken und konnte ihr Parfum riechen. Es war süßer und wärmer, als ich vermutet hätte, aber auch exotisch. Jedenfalls fühlte es sich sehr nah an, fast intim.

Vor allem war ich irritiert, dass sie ihre Hand über meine Augen legte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann das letzte Mal ein Lehrer oder eine Lehrerin mich berührt hatte. Das machte man doch heutzutage nicht mehr! Wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben, dass es Jahre her war, dass irgendwer mich so berührt hatte. Ich muss zugeben, dass ich noch nie einen richtigen Freund gehabt hatte. Ich hatte mal auf einer Party rumgeknutscht, aber auch das war schon lange her und nichts Ernstes.

Aber sie tat das mit einer Selbstverständlichkeit, die mich irgendwie beruhigte. Sie war darin so bestimmt und selbstsicher, dass ich es akzeptierte. Überhaupt fühlte ich mich von der ganzen Situation auch geschmeichelt. Von ihrem Kompliment und von der Art, wie sie mich so seltsam angesehen hatte, als würde sie sich an mich erinnern.


Meine Lehrerin, meine HerrinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt