6 - Zurechtweisung

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Dieses Bild und dieses Gefühl bekam ich nicht aus meinem Hirn.

Ich musste wirklich die ganze Zeit an sie denken!

Ihre Skizze von mir betrachtete ich immer wieder. Ich hatte mir einen kleinen Rahmen gekauft und sie an die Wand gehängt. Und wann immer ich diese Skizze betrachtete, wurde mir eines immer klarer:

So zeichnete man Menschen nicht einfach so.

So zeichnete man nur jemanden, in den man verliebt war.

War also meine Lehrerin in mich verliebt?

Hatte sie sich in mich verknallt?

Und was war mit mir?

Ich hatte mir nie viele Gedanken darüber gemacht, ob ich auf Frauen stand. Vielleicht war aber etwas anderes wichtiger: Ich stand auf ihre Ausstrahlung, auf ihre Selbstsicherheit, auf ihre Eleganz. Ich stand auf all das, was sie ausstrahlte. Alles andere war egal.

Es war so falsch, dass ich mich in meine Lehrerin verliebt hatte und sie sich in mich.

Es durfte nicht sein.

Aber sie schien es zu wollen, und ich konnte mich ihr nicht entziehen.

Ich wollte es auch nicht, konnte nicht erwarten, mehr von ihr zu bekommen, auch wenn ich mich dagegen sträubte, weil es total falsch war.

Am nächsten Tag hatte ich Englisch bei ihr, mein zweites Fach bei meiner neuen Klassenlehrerin.

Meine Klasse war schon wieder chaotisch, und ich schämte mich für die blöden Sachen, die die machten. Das waren echt noch Kinder!

Ich hatte mich in eine Ecke gesetzt und machte still meine Aufgaben, aber mit einem Auge beobachtete ich immer wieder Frau Schwarz, meine Lehrerin. Ich wünschte, ich könnte auch zeichnen. Stattdessen überlegte ich, ob ich nicht versteckt mit meinem Handy ein paar Fotos von ihr machen könnte, damit ich zuhause etwas von ihr hätte. Aber ich hatte zu viel Schiss, dass sie mich dabei erwischen würde. Ich war einfach nicht so cool und entschlossen wie sie.

Denn egal, wie sehr ich in sie verknallt sein mochte, und ich war so weit zuzugeben, dass ich in meine Lehrerin verknallt war, so sehr war sie immer noch streng zu jedem, der ihre Anweisungen missachtete.

Als wir was schreiben sollten, ging sie einmal durch die Reihen, und als sie bei mir vorbeikam, musste sie Denis ermahnen, der mit Papierkügelchen durch die Klasse warf.

Sie seufzte einmal, und als sie "diese Kinder" sagte, konnte ich spüren, dass sie mich anlächelte, auch wenn sie hinter mir stand, denn im nächsten Moment strichen ihre Hände einmal an meinen Haaren vorbei.

Es war fast schon schmerzhaft, wie gut sich das anfühlte.

Ich wollte unbedingt mehr ihrer Aufmerksamkeit. Auch wenn sie schon bei der nächsten Schülerin war, meldete ich mich und stellte ihr eine doofe Frage. Sie kam auch zurück, beugte sich über mich, um auf mein Heft sehen zu können, und dabei legte sie ihre Hand ganz leicht auf meine Schulter. Ich roch ihr Parfum.

Sofort schoss alles mögliche durch meinen Kopf, durch meinen Körper. Es war die zarteste Berührung, die man sich vorstellen konnte, fast nicht zu spüren, von niemandem sonst zu sehen.

Ich erinnere mich nicht mehr, was sie sagte, aber dass ich meinen Kopf zur Seite neigte, weil ich sie spüren wollte, ihren Arm berühren wollte. Aber sie entzog sich mir sofort wieder und flüsterte tadelnd:

"Vorsicht, kleine Dame!" und dann verschwand sie.

Diese Worte stachen in meiner Seele. Ich wollte ihr gefallen, ich wollte alles richtig machen, aber ich wollte sie auch. Und ich dachte, dass sie mich auch wollte! Warum schimpfte sie mich dann so aus?

Hatte ich das verdient? So eine harte Zurechtweisung? Als wäre ich wie Denis oder Michael oder Tanja oder all die anderen Schüler, die sich einfach daneben benahmen?

Das konnte sie doch nicht denken!

Ich war jedenfalls ziemlich geknickt.

Sie hatte sich mit ihrer Strenge überrascht. Ich mochte irgendwie ihre Schärfe, ihre Selbstsicherheit. Aber ich mochte es nicht, dass sie mich so behandelte.

Ich wollte ihr gefallen.

Das war mir plötzlich unglaublich wichtig.

Meine Lehrerin, meine HerrinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt