14. Warum dieser Sonntag nicht ganz so schrecklich wurde

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Am Sonntagmorgen war ich unruhig und musste mein Bein bewusst davon abhalten nervös auf und ab zu zappeln, während ich beim Frühstück saß. Ich hatte heute mein Haar zu zwei losen Zöpfen geflochten und bereute es jetzt schon. Die Zöpfe hingen mir andauernd im Weg herum und ich war sicher, dass sie nicht erst einmal in der Erde gehangen hatten.
Zum ersten Mal war ich beim Besuchstag nicht komplett genervt, sondern freute mich sogar. Ich musste nicht weiter in mich dringen, um festzustellen, dass diese Gefühle auf Ilan zurückzuführen waren. Ich versuchte, mir einzureden, dass ich mich so freute, wie es Black tat, weil ihr Bruder sie besuchen kam. Der Bruder meiner besten Freundin kam zu Besuch. Mehr war da nicht. Nach dem Frühstück ging ich in den Garten, um dort etwas zu arbeiten und meine Nervosität abzubauen. Die Zeit ging schnell rum und schon sah ich Black mit ihrem großen, braun gebrannten Bruder auf mich zukommen. Er trug wieder eine Arbeitshose aus Jeans, allerdings war diese sauber. Dazu trug er ein T-Shirt und ein Karohemd. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt. Die Sonne schien zwar nicht – es war bewölkt und würde bald regnen – doch es war warm. Fast schwül. Ich spürte dieses Flattern in meinem Magen, das mich vermuten ließ, dass ich mich doch anders über Ilan freute, als es Black tat. Gleichzeitig spürte ich eine unbestimmte Angst im Magen. Vielleicht wegen der Horrorgeschichten der Betreuerinnen?             Ich lächelte Ilan an und war froh, dass ich die Hände voll hatte und so der unangenehmen Begrüßungssituation aus dem Weg zu gehen. Ich hätte nicht gewusst, wie ich ihn begrüßen sollte und so musste mein verlegenes Lächeln reichen. Keine Ahnung, was er über mich dachte. Vor allem über meinen peinlichen Abgang. Augenblicklich stieg Hitze in mir auf und ich vermutete, dass jeden Moment mein Gesicht knallrot sein würde. Ich senkte den Blick.
„Hallo. Wie geht es dir?", fragte er.
Ich sah seine grauen Augen aus dem Augenwinkel und mir wurde flau im Magen. „Gut", antwortete ich, etwas atemlos.
„Ich habe Ilan erklärt, warum du am Samstag so schnell losmusstest. Mach dir keine Gedanken", zwitscherte Black dazwischen. „Hast du Lust uns den Garten zu zeigen?" Black hatte sich besitzergreifend bei Ilan untergehakt.
Ich nickte, brachte mein Gartenwerkzeug in den Schuppen und wusch mir die Hände. Schnell spritze ich auch etwas kaltes Wasser in mein Gesicht und hoffte, dass es mittlerweile eine normale Farbe angenommen hatte. Dann gingen wir zu dritt durch den Garten und ich erzählte einiges über die verschiedenen Pflanzen und die Aufteilung des Gartens. Wir gingen langsam und Ilan erzählte ab und zu etwas über seine Arbeit als Gärtner. Er war zuständig für einige Gärten wohlhabendere Personen, die es sich leisten konnten, dass ein oder sogar mehrere Gärtner sich um diese kümmerten. Ilan entwarf die Gärten und beaufsichtigte, dass die Arbeiten korrekt ausgeführt wurden. Deshalb arbeitete er auch zuhause gern in der Natur. In der Arbeit hatte er damit nicht so viel zu tun. Wir gingen durch ein menschenleeres Tomaten-Gewächshaus, als Ilan bei einer Pflanze stehen blieb. Es war eine der Tomatenpflanzen, die ich gezüchtet hatte. Ihr dunkelgrünes Laub und die sternförmigen Blüten erkannte ich auch unter tausend anderen Pflanzen.
„Danke übrigens für die Tomatenpflanzen", brummte Ilan und sah mir direkt in die Augen. Sie schienen mich festzuhalten. Ich konnte den Blick nicht abwenden.
Black räusperte sich vernehmlich.
Mein Blick flog zu ihr und Nervosität stieg in mir auf. „Äh ja. Bitte. Ich hatte dir zwei Tomatenpflanzen mitgebracht. Das eine ist eine alte Sorte, dicke Olga, die schon seit Jahrzehnten, sagt zumindest Ida, hier angebaut wird. Sie ist sehr robust und bekommt schöne mittelgroße, dunkelrote, fast schwarze Früchte." Ich hörte meine vor Nervosität zu hohe Stimme. Ilan aber nickte ernst bei meiner Erklärung, was meine fiebrige Nervosität etwas beruhigte.
„Das andere ist eine Sorte, die ich gezüchtet habe", fuhr ich etwas ruhiger fort. „Sie trägt viele, kleine, süße, rote Früchte und ist bisher auch recht anspruchslos. Das muss man weiter beobachten."
„Und wie heißt sie?", fragte er und seine hypnotisierenden Augen hatten mich schon wieder gefangen. „Red's Reds", flüsterte ich und senkte den Blick.
Die Geschwister schwiegen und ich traute mich nicht, meinen Blick zu heben. Ich schielte kurz hoch. Black sah mich mit großen Augen an und begann haltlos zu kichern. Sie kicherte so albern, dass auch ich lächeln musste, trotz meiner Nervosität. Mein Blick flog zu Ilan und ich glaubte auch ihn schmunzeln zu sehen. Wir gingen weiter und kamen am Hühnerstall vorbei. Ich sah die Hühnerschar verteilt in einer der hinteren Ecken ihres abgegrenzten Geheges. Ilan blieb interessiert stehen. Black stellte sich neben ihn und ich mich auf seiner anderen Seite an den Zaun. 
Mein Kopf reichte knapp bis über seine Schulter. Black rümpfte ihre Nase, als der Wind uns einen Schwall Hühnerdunggeruch entgegenwehte. Wir sammelten den Dung in einem großen Eimer und nutzten ihn als Dünger im Garten. Offensichtlich hatte das Mädchen den Eimer heute Morgen nicht richtig zugemacht. Ich ging zum Tor und sofort kamen die Hühner auf uns zu gerannt.
„Wenn ihr mitkommen wollt, dann macht schnell und schließt hinter euch", sagte ich zu den Geschwistern gewandt. Black sah nicht begeistert aus, aber Ilan kam schon hinter mir durch das Tor. Black kam notgedrungen hinterher und mühte sich mit dem Tor ab.
„Hallo zusammen. Habt ihr etwa schon Hunger? Da seid ihr aber zu früh dran. Ich komme nur, um euren stinkenden Eimer zuzumachen." Ich verstummte, als mir bewusst wurde, dass ich mit den Hühnern redete und das möglicherweise seltsam wirken könnte. Doch Ilan sah sich nur interessiert um. Black stand erstarrt am Tor und schien unsichtbar werden zu wollen, weil der angeberische Hahn sie kritisch musternd umkreiste.
„Gib nicht so an, King. Sie tut dir nichts und nimmt dir keine deiner Frauen weg." Ich verscheuchte King, der mich vorwurfsvoll angackerte. Ilan folgte mir, als ich zu dem großen Eimer ging und sah interessiert hinein.
„Nehmt ihr das als Dünger?", fragte er und ich nickte.
„Wenn der Eimer voll ist, wird gedüngt. Es stinkt zwar ziemlich, ist aber ein fantastischer Dünger." Ich sah ihm bewusst nicht in die Augen. Ich wollte nicht schon wieder so starren. Der indirekte Blickkontakt schien die hypnotisierende Wirkung seiner Augen etwas zu entschärfen, doch trotzdem wandte ich meinen Blick bewusst ab. Er sah sich so interessiert um und die Hühner umgackerten uns so aufdringlich, dass ich ihm anbot, sie zu füttern. Dann gab es heute halt doch etwas früher Essen. Die Hühner bekamen die Gemüse- Küchenreste, welche in einem Eimer neben dem Stall gelagert wurde. Normalerweise gab es einmal am Tag etwas aus dem Eimer, aber wenn der Eimer voll war und etwas übrig blieb, gab es noch eine weitere Portion am Abend mit den Körnern. Ich hielt Ilan den Eimer mit den Küchenresten hin, als mir aufging, dass er das möglicherweise eklig finden könnte. Blacks Blick vom Zaun aus, von dem sie sich nicht wegbewegt hatte, zeigte diesen Ekel in dem Moment eindrucksvoll. Allerdings war ihr Blick auf Tusnelda gerichtet, die sich anbiedernd an sie schmiegte. Zu Blacks Erleichterung sah Tusnelda in diesem Moment den Reste- Eimer und kam gackernd zu uns. Ilan nahm sich einfach den gesamten Eimer und verteilte die Kartoffel- und Möhrenschalen und was sonst noch alles im Eimer war in Schwüngen über die Hühnerschar. Diese gackerten verzückt und stritten sich lautstark um die besten Stücke. Tusnelda, die es gewohnt war, etwas aus meiner Hand zu bekommen, pickte auf meinem Stiefel herum. Ich hockte mich zu ihr, hob ein paar Schalen auf und hielt sie ihr in der hohlen Hand hin. Es schien sie nicht zu stören, dass ich ihr lediglich aufgehobene Schalen gab. Es hatte aber auch Niemand behauptet, dass Hühner besonders schlau seien. Ilan hockte sich neben mich, nahm sich ebenfalls ein paar Schalen und bot sie Kunigunde an. Sie beäugte ihn ziemlich kritisch und wandte ihren braunen Kopf von links nach rechts, um ihn genauer zu begutachten. Dann pickte sie probehalber in seine Hand und machte einen Schritt rückwärts. Als ihr nichts geschah, kam sie näher und pickte weiter. Ilan sah auf und lächelte mir zu. Dieses Lächeln machte mich kribbelig. Um mich abzulenken, betrachtete ich seine Zähne und bemerkte, dass einer seiner Schneidezähne etwas schief stand, und fragte mich, ob seine leicht schiefe Nase und sein schiefer Zahn vielleicht miteinander zu tun hatten.
„Tolle Tiere", stellte er fest. Ich nickte und strich sanft über Tusneldas weiße Federn. Sie blieb einen kurzen Moment bei mir und schmiegte ihren Kopf an meinen Finger, bevor sie sich in den Kampf warf, um noch weitere Gemüsereste zu erobern. Etwas später kamen wir wieder bei dem Beet an, in dem ich gearbeitet hatte. Unsicher blieb ich dort stehen, da ich nicht wusste, was ich nun tun sollte. Black nahm mir diese Entscheidung ab. Sie lächelte mich breit an und sagte:
„Dann viel Spaß noch hier. Wir gehen noch etwas rein. Ich möchte ein bisschen mit meinem Bruder allein sein."
Ich blieb dort stehen, als wäre ich festgewachsen und es fühlte sich an, als hätte Jemand eine der Gießkannen über mir ausgegossen. Sie hatte natürlich jedes Recht dazu mit Ilan alleine sein zu wollen, doch trotzdem fühlte ich mich irgendwie ausgeschlossen und abgewiesen. Black hatte sich schon umgedreht und Ilan mit sich gezogen, der sich zu mir umblickte und ein entschuldigendes Halblächeln im Gesicht hatte. Dann schien er stirnrunzelnd auf seine Schwester einzureden. Sie kamen nicht zurück. Also blieb ich allein bei dem Beet stehen. Um das kalte unangenehme Gefühl loszuwerden, kniete ich mich im wahrsten Sinne des Wortes in die Gartenarbeit. Ich jätete Unkraut in allen Beeten, in denen das nötig war und machte mich dann an die zeitaufwändige und bei dem Wetter schweißtreibende Aufgabe die Tomaten in den Gewächshäusern auszugeizen und anzubinden. Als der Regen begann auf das Dach zu prasseln, fühlte sich das so passend an, dass ich mich selbst aufschluchzen hörte. Schnell unterdrückte ich das Geräusch und zog die Nase hoch. Ich arbeitete mich durch die Reihen, bis es dunkel und ich erledigt war. Ich war wieder etwas spät dran und beeilte mich zu den Hühnern zu kommen, die schon auf ihren Stangen saßen. Ich zählte durch, schloss die Klappe und beschloss ihnen ihre Körnerration morgen über Tag zu geben. Das würden sie mir nicht übel nehmen. Sie hatten ja schon genug von den Küchenresten abbekommen mussten deshalb nicht hungrig schlafen. Tusnelda saß auf einer der vorderen Stangen und blinzelte mich an. Ich strich ihr mit einem Finger über den Kopf und auf ihre so eigene Art schmiegte sie sich an meinen Finger. Da sollte mal Jemand sagen, das Hühner keine gefühlvollen Tiere waren. Sie pickte mir tröstend den Finger, als ich unwillig schniefte. Nach einer kurzen Katzenwäsche fiel ich etwas später nur noch ins Bett und schlief schnell ein. Ich stand im Garten und eine seltsam gesichtslose Black zog ihren Bruder von mir weg. Um mich herum standen Ruth, Paula und Edda.
Sie redeten auf mich ein.
„Wenn sie etwas wollen, dann nehmen sie es sich."
„Männer sind grobe Schweine."
„Sie holen sich mit Gewalt, was sie wollen."
„Er hat mich geschlagen."
„Manche sehen gut aus und sind freundlich, aber sie zeigen früher oder später ihr wahres Gesicht!"
„Einmal war er freundlich, dann schubste er mich die Treppe runter."
„Sie sind alle gleich!"
„Man kann ihnen nicht trauen."
„Wenn du einen Fehler machst, wirst du es bereuen."
„Monster!"
„Tiere!"
Sie umringten mich und ich saß zitternd vor Angst auf dem kalten Boden.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt