10. Was lange währt, wird nicht immer gut

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Ich war grade im zukünftigen Tomatenbeet und hob die Löcher für die Tomatenpflanzen aus, die dieses Wochenende in die Beete kommen sollten. Die kältesten Tage und vor allem Nächte waren überstanden und jetzt konnten die empfindlichen Pflanzen raus. Ich war nicht die einzige im Beet, denn das Auspflanzen der Tomaten, Paprika und der anderen empfindlichen Pflanzen war eine größere Aufgabe. Zum Glück fanden sich dieses Wochenende mehrere Freiwillige.
Ich wischte mir den Schweiß mit dem Arm von der Stirn und dachte darüber nach, ob ich jetzt einen Dreckfleck im Gesicht hatte. Mein Ärmel war leider nicht viel sauberer als meine Hände, die in Handschuhen steckten, als Henrietta nach mir rief.
Ich sah mich überrascht zu ihr um, stach meinen Spaten in den Boden und schob meinen riesigen Sonnenhut aus dem Gesicht. Ich war nicht nur ein wenig irritiert davon, dass sie dort mit einem Glas Wasser stand und es mir entgegenhielt.
„Hier", sagte sie etwas brüsk. Selbst anscheinend nicht sicher, wie sie mit dieser freundlichen Geste umgehen sollte. Ich nahm das Glas mit einem Nicken entgegen und leerte es in einem Zug.
„Danke."
Sie nickte ihrerseits und ich wollte mich schon wieder umdrehen und weitermachen, als sie mich aufhielt.
„Ich möchte etwas mit dir besprechen", sagte sie.
„In Ordnung", erwiderte ich langsam. Das war ungewöhnlich, denn wenn Henrietta etwas wollte, sagte sie es entweder sofort oder forderte Einen direkt auf in ihr Büro zu kommen. Das hieß dann aber, dass man etwas ausgefressen hatte.
„Soll ich später in dein Büro kommen?"
„Ja. Nein. Also ...", sie schüttelte den Kopf. Sie war normalerweise sehr redegewandt und ich war langsam wirklich verwirrt. „Du hast nichts ausgefressen. Also keine Sorge. Ich würde nur gerne mit dir allein sprechen. Du kannst ja, wenn du hier fertig bist, vorbei kommen."
Ich nickte.
„Dann bis später." Ich gab ihr das Glas zurück. Sie nickte erneut, drehte sich zügig um und verschwand im Haus.
Ich sah ihr kurz nach, drehte mich dann aber um, um mit den anderen die Tomatenpflanzen einzupflanzen.
Nach der Arbeit hatte ich mich gewaschen und meine Zöpfe neu gebunden um den Kopf geschlungen und mir sogar ein neues Kleid angezogen. Also genau genommen ein frisches Kleid. Wie alle meine Kleider war es grau oder blau. Neue Kleider gab es nur am Ende des Jahres oder wenn die eigenen auseinanderfielen. Oder wenn man sich selbst welche nähte aus den Stoffen, die wir regelmäßig vom System bekamen. Die waren zwar unterschiedlich, aber alle in verschiedenen Abstufungen hässlich. Je nachdem, was das System in dem Moment übrig hatte. Manchmal waren es neutrale Farben und nur kleine Web- oder Färbefehler hatten sie ausgemustert. Manchmal aber waren die Muster so grottenhässlich, dass sie vermutlich niemand haben wollte. Wenn man das Glück hatte und gut nähte, konnte man sich etwas halbwegs Schönes und vor allem Passendes nähen. Ansonsten war man, wie ich, darauf angewiesen, dass die Mädchen, die gut nähen konnten, dies übernahmen. Das ganze Jahr über gab es einen Nähdienst, der Standardkleider für das Ende des Jahres nähte, die dann verteilt wurden. Wenn man sich mit den Näherinnen gut stellte, konnte man Glück haben und bekam etwas schönere Kleidung.
Da ich eine der Größten war, musste für mich ohnehin gezielt genäht werden und obwohl es mich nicht besonders interessierte, was ich trug, hatte ich mit einigen der Näherinnen eine unausgesprochene Abmachung. Ich übernahm ihre Gartenarbeit und dafür nähten sie mir Kleider aus den einfarbigen, nicht zu hässlichen, Stoffen. Zudem achteten sie darauf, dass die Kleider auch lang genug für meine Größe waren. Das war nicht selbstverständlich. Eine ganze Zeit lang sah ich so aus, als wäre ich aus meinen Kleidern herausgewachsen, bevor ich auf die Idee kam einen Deal mit einigen Mädchen zu machen. Über die Idee war ich, zugegebenermaßen, immer noch sehr froh.

Ich ging zu Henriettas Büro und klopfte, doch sie war nicht da. Deshalb ging ich zum Abendessen, wo ich sie auch nicht sah. Auch nach dem Essen öffnete sie nicht.
Achselzuckend ging ich in die Bibliothek und las etwas, bis ich müde wurde und mich ins Bett bewegte.
Dann war es wohl nicht so wichtig.
Als ich am nächsten Tag im Tomatenbeet stand und die Pflanzen besah, ob sie wirklich ordentlich in den Boden gekommen waren, rief mich schon wieder Henrietta, die mit ihren Absatzschuhen am Rand des Beetes stand, zu sich.
„Schon wieder hier erwischt. Ich gebe es zu, Tomaten sind meine heimliche Leidenschaft. Wusstest du, dass ich eine eigene Sorte gezüchtet habe? Ich bin wirklich gespannt, wie sie dieses Jahr wird. Ich glaube ich nenne sie ...", ich verstummte, als ich ihren Blick sah.
„Ich hatte dir gesagt, dass ich dich sprechen will und, dass es wichtig ist", sagte sie streng. Das erinnerte mich schon mehr an die echte Henrietta.
„Das hast du nicht gesagt. Außerdem war ich zweimal bei deinem Büro und habe geklopft, aber du warst nicht da", verteidigte ich mich.
Sie schnaubte.
„Jetzt habe ich keine Zeit. Gleich kommt ... egal. Das ist ja unwichtig. Ich habe einen Termin und kann nicht mit dir reden. Heute Abend kommst du vorbei. Es ist außerordentlich wichtig." Sie drehte sich zügig um und ging zurück ins Haus.
Sehr seltsam.
Über den Tag machte ich mir immer mehr Gedanken. Irgendwann wurden aus den Gedanken Sorgen. Hatte ich doch etwas getan? Aber dann hätte Henrietta mir das schon früher gesagt.
Oder hatte es etwas mit Quasselstrippe zu tun? Wollte sie vielleicht nicht zurück hierher kommen, weil sie sauer auf mich war?
Nein, das war natürlich Unsinn.
Aber was, wenn doch.
Ich machte mich selbst so nervös, dass ich irgendwann gar nicht mehr wusste, was ich mit mir anfangen sollte.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt