18. Was ein blutender Fuß bewirken kann

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Die gesamte nächste Woche nutzte ich weiterhin, um die Bibliothek methodisch durchzuarbeiten.Ich hätte eigentlich bei den Vorbereitungen für das Gründungsfest helfen müssen, aber das hielt ich auf das Minimum begrenzt.Die Anderen waren aufgeregt und freuten sich, da an diesem Tag sogar Namenlose feiern durften.Ich nutzte meine freie Zeit zur Recherche.Ich musste mittlerweile einsehen, dass es immer unwahrscheinlicher wurde, dass ich etwas fand, das mir wegen der Ausweisung helfen könnte.Ich hatte die wenigen Sachbücher über das System und die Bestimmung gelesen, doch das waren alles eher oberflächliche Informationen, die auch so im Schulunterricht gelehrt wurden. Es war nichts Neues dabei.Also hatte ich mich darauf verlegt jedes Buch, das in der Welt des Systems spielte zumindest zu überfliegen. Das hieß, dass ich auch einige Romane las, und hoffte, dass dort etwas zu finden war.Das war es natürlich nicht.Der Computer war die ganze Woche über nicht angegangen. Ich hatte ihm beständig böse Blicke zugeworfen und ein ums andere Mal überlegt, ob ich nicht einfach versuchen sollte ihn zum Laufen zu bringen. Doch ich schlug mir das wieder aus dem Kopf.Ich wollte dem System nicht vor der Zeit einen Grund geben, mich auszuweisen, was sie mit Sicherheit tun würden, wenn ich an ihrem Eigentum herumstümperte.Die Abende verbrachte ich mich Black. Wir stickten gemeinsam und einmal kam sie mit mir in den Garten und las mir ein Buch vor, während ich arbeitete.Ich versuchte in allem, was sie sagte herauszuhören, ob sie mich am Wochenende nicht dabei haben und allein zu Ilan gehen wollte. Doch ich traute mich nicht sie einfach zu fragen.Am Freitagabend hatte ich es immer noch nicht herausgefunden, als Black mir eine gute Nacht wünschte und in ihr Zimmer ging. Ich überlegte grade, ob ich ihr nachrufen sollte, da drehte sie sich im Gehen noch einmal um.„Ich freue mich schon auf unser Wochenende. Vielleicht können wir nochmal zusammen backen?" Sie lächelte mich auf ihre so typische Weise an und mir fiel eine Last von den Schultern.Ich konnte nicht anders, als zurückzulächeln und mit vereinzelten albernen Hopsern in mein Zimmer zu gehen.Einen Großteil der Nacht hatte ich wachgelegen und über das System und meine drohende Ausweisung nachgegrübelt.Über das kommende Wochenende.Und über Ilan.Immer wieder waren meine Gedanken zurück zu ihm gewandert.Zu seinen strahlenden Augen, zu seiner ruhigen Art.Seinem muskulösen Körper.Seinen warmen rauen Händen. Darüber, dass er mir den Sonnenhut geschenkt hatte. Und über diese Momente, die wir gehabt hatten. Als er so nah vor mir stand, dass ich geglaubt hatte, er würde ...Über meinen Gedanken war ich irgendwann eingeschlafen und wachte mit Kopfschmerzen auf.Vor dem Frühstück holte ich mir aus dem Garten etwas Rosmarin, Melisse und Lavendel und hoffte, mit einem Tee meine Kopfschmerzen vertreiben zu können.Ich hoffte, noch möglichst viel Zeit für mich zu haben, bevor Black mich mit ihrer lauten und aufgedrehten Art, mitriss.Diese Hoffnung bewahrheitete sich nicht, doch zumindest einige Minuten hatte ich für mich.Schneller als ich gucken konnte, gingen wir schon durch Ilans quietschendes Gartentor und standen vor seiner Haustür. Es nieselte und wir waren schnell gegangen, weshalb wir etwas außer Atem waren.Da nicht geöffnet wurde, als wir klopften, öffnete Black die Tür einfach selbst und ging hinein.Im Haus war Ilan nicht, also gingen wir zu der Hintertür in den Garten. Dort fanden wir ihn.Er hatte eine Axt in den Händen und hackte auf eine Wurzel im Boden ein. Offensichtlich war ihm heiß gewesen, denn sein Hemd hing über einem Busch in der Nähe.Sein T-Shirt klebte an ihm. Ob vor Schweiß oder von dem Nieselregen konnte ich nicht sagen, doch ich musste meinen Mund sehr bewusst schließen, damit ich ihn nicht mit offenem Mund anstarrte.Das flatternde Gefühl in meinem Magen war mir so überdeutlich bewusst, wie Black, die neben mir stand und mich mit einem unfreundlichen Seitenblick bedachte.Doch als ich zu ihr blickte, sah ich, dass ich mich geirrt hatte. Sie sah eher genervt zu ihrem Bruder.„Kannst du dir mal was anziehen, das nicht deinen ganzen Körper so überdeutlich abmalt? Das ist ja widerlich", rief Black ihrem Bruder zu, der überrascht zu uns sah.Er lachte.„Ich kann das Shirt auch ganz ausziehen, wenn dir das lieber ist", sagte er mit wackelnden Augenbrauen und griff sich mit den Händen an den Saum seines Shirts, wie um es auszuziehen.Mein Herz blieb stehen, als ich die Haut über seinem Hosenbund sah und die feinen, dunklen Haare, die sich dort zeigten.Mein Atem ging augenblicklich schneller und ich wünschte mir, wesentlich näher bei ihm zu stehen.Hitze stieg in mir auf.Ich versuchte meine Aufgewühltheit hinter einem Lächeln, mit genervten Stirnrunzeln zu verstecken. Das war der Ausdruck, den ich auf Blacks Gesicht sah.„Bloß nicht! Das will doch keiner sehen!", rief Black und sah, um Zustimmung heischend zu mir. Ich nickte schnell pflichtbewusst und merkte schon, dass dieses Nicken in ein Kopfschütteln überging. Das unterband ich schnell und wünschte mir doch etwas ganz anderes.„Komm. Wir bringen unsere Sachen rein", forderte mich Black auf und ich folgte ihr.„Ich verstehe schon, was die ganzen Frauen an Ilan mögen. Wenn man auf Männer steht, muss man seinen Körper einfach bewundern", meinte Black plötzlich.Mir wurde kalt.„Er hat ja auch einen tollen Körper. Das kann ich sogar als Schwester sehen." Sie sah mich direkt an. Offensichtlich erwartete sie eine Antwort von mir.Ich schluckte schwer und versuchte das kalte Gefühl zu ignorieren und meine Hände vom Zittern abzuhalten.„Ich weiß nicht", erwiderte ich unschlüssig, doch Black nickte zufrieden.„Ja. Er sieht in dir auch sowas wie eine Schwester. Gut, dass du es so siehst."Ich hatte das Gefühl nicht atmen zu können. Black hatte das Zimmer schon wieder Richtung Wohnraum verlassen und ich war froh, dass sie mich so nicht sah.Denn in diesem Moment konnte man mir, mit Sicherheit, alle Gefühle im Gesicht ablesen.Ich wusste in diesem Moment nur, dass mir eiskalt war, dass sich meine Fingernägel, in meine Handballen gruben und ich die Zähne so fest zusammenbiss, dass sich meine fast verschwundenen Kopfschmerzen überdeutlich zurückmeldeten.Was hatte ich erwartet? Natürlich war es so.Natürlich war ich nur die Freundin seiner Schwester für ihn. Natürlich ... Aus Angst, dass Black mich hier so sehen würde, atmete ich tief durch und versuchte meinen Körper bewusst zu entspannen.Zu gerne hätte ich mich in diesem Moment in meinem eigenen Zimmer verkrochen, doch das war nicht möglich.Also musste ich mich Black stellen.Sie wusste nicht, was sie mir mit ihren Worten antat. Woher sollte sie auch? Und sie sollte auch nicht erfahren, was sie getan hatte.Ich zwang ein Lächeln auf mein Gesicht.Als das gehörig misslang, bemühte ich mich zumindest um einen neutralen Gesichtsausdruck und ging hinaus zu Black, die in der Küche stand und mit mir backen wollte.Dieses Mal wollten wir etwas Aufwändigeres backen und Black hatte sich ein Rezept von Ruth erschmeichelt. Anscheinend hatte sie Ilan schon die Zutatenliste gegeben, denn alles war da.Während des Backens verschwanden zwar meine Kopfschmerzen nicht und auch nicht das kalte Gefühl, aber ich dachte zumindest nicht mehr nach.Der Kuchen war für den nächsten Tag gedacht und so kochten Black und ich im Anschluss noch das Abendessen und riefen Ilan dazu herein. Als ich am Tisch saß, bemerkte ich, dass ich einige Flecken auf meinem Rock hatte. Ich versuchte sie unauffällig zu entfernen, ließ es dann aber, als es nur schlimmer wurde.Wenn die Beiden bemerkten, dass ich noch stiller war, als sonst, so sagten sie nichts dazu.Als ich mich recht früh, wegen meiner Kopfschmerzen, ins Bett verabschiedete, sah mich Black mitfühlend an.Ilan sah mich prüfend an. Mit ihm hatte ich heute kaum ein Wort gewechselt.Ich wich seinem Blick aus, verschwand ins Bad und legte mich dann auf meine Matratze in Blacks Zimmer.Ich konnte meine Gedanken nicht beruhigen. Unablässig kreisten sie um Blacks Worte. Ilan sah mich als Schwester.War das so schlimm?Das hieß, dass er mich so sehr, wie seine Schwester mochte.Doch ich musste es mir eingestehen, das reichte mir nicht.Ich wollte mehr von ihm.Mehr als eine Schwester.Während meine Gedanken kreisten, schlich sich Black leise ins Zimmer, rumorte noch etwas herum und legte sich dann ins Bett. Ich hatte mich zur Wand gedreht und tat so, als ob ich schlafen würde.Mit Schrecken wurde mir plötzlich klar, dass ich die Beiden nie mehr wiedersehen würde, wenn ich ausgewiesen werden würde. Obwohl ich unter einer warmen Decke lag, wurde mir erneut kalt und ich spürte einen Knoten in meinem Magen.Da sich meine Gedanken weiter im Kreis drehten und ich ohnehin wach war, beschloss ich noch einmal ins Bad zu gehen und mir danach ein Glas Wasser zu holen.Beim Händewaschen sah ich in den Spiegel und verzog das Gesicht über die hinzugekommenen Sommersprossen. Die viele Gartenarbeit in der Sonne hatte, trotz Sonnenhut, ihre Spuren hinterlassen. Ich bemühte mich, die Sprossen möglichst neutral zu betrachten und vielleicht sogar niedlich oder interessant zu finden, doch ich fand sie nur ... was auch immer.Sie waren einfach da, und zwar überall, so viele, dass ich glaubte, dass mein Gesicht fast verschwand.Resolut zog ich meinen dicken Zopf über die Schulter nach vorn und zog ihn etwas lockerer, um meinen schmerzenden Kopf zu entlasten.Ich verließ das Bad und schlich in die Küche. Ich öffnete leise die Schränke, weil ich nicht genau wusste, wo die Gläser waren. Ich fand den richtigen und nahm eines heraus.„Was tust du hier?"Ich ließ vor Schreck das eben gefundene Glas fallen. Es fiel laut splitternd auf die Bodenfliesen und zersprang zu tausenden Scherben.Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich und sah erschrocken zu Ilan.Er trug eine weite Stoffhose, die tief auf seinen Hüften saß und hatte sich nur ein Hemd übergeworfen, dass notdürftig zugeknöpft war und viel von seinem Oberkörper entblößte.Ich erwartete, mit pochendem Herzen, seine Reaktion und hörte gleichzeitig mit einem Ohr darauf, ob ich Black geweckt hatte.„Bleib stehen!", sagte Ilan scharf.Ich blieb stehen und bewegte mich nicht. Mir war wieder eiskalt und ich spürte, dass meine Hände anfingen zu zittern.Plötzlich kamen mir wieder die Geschichten der Betreuerinnen ins Gedächtnis.Wenn du einen Fehler machst, wirst du es bereuen.Er kam mit einem Besen und einem Kehrblech zurück und ging vor mir auf die Knie, um die Scherben zusammenzukehren.Ich wollte ihm schon helfen, als er sagte leise:„Ich habe gesagt. Bleib stehen!"Ich sah, dass meine Hände jetzt unkontrollierbar zitterten.Monster.Tiere. „Du wirst noch in eine Scherbe treten und dich verletzen.", sagte er sanft.Ich sackte vor Erleichterung in mir zusammen, an den Tresen gelehnt.Ich sah auf meine nackten Füße und blieb stehen, wo ich war. Unsicher schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper. Nicht nur, weil mir kalt war, sondern auch, weil mir auffiel, dass ich mein Nachthemd trug und ich mein Zittern unterdrücken wollte.Nicht, dass das Nachthemd nicht alles verdeckte, doch trotzdem fühlte ich mich nackt vor dem Bruder meiner Freundin.Methodisch kehrte er die Scherben auf und schüttete sie von dem Blech in den Mülleimer.„Hast du dich verletzt?", fragte er und ich quietschte überrascht auf. Ich war so in meinen Gedanken versunken gewesen, dass ich nicht erwartet hatte, angesprochen zu werden.„Nein", antwortete ich flüsternd. „Es tut mir leid. Das wollte ich nicht."„Ich weiß. Warum hättest du das mit Absicht tun sollen? Es war meine Schuld. Ich habe dich erschreckt", antwortete er ebenfalls flüsternd und sah mich mit diesen wunderschönen schiefergrauen Augen an.Ich erwiderte seinen Blick kurz und sah dann weg.Erleichtert atmete ich auf. Er sah nicht so aus, als würde er mich gleich schlagen oder anschreien.„Du darfst dich auch wieder bewegen", sagte er leise und grinste schief.Ich bemerkte erst jetzt, dass ich immer noch, genau dort stand, wo ich gestanden hatte, als ich das Glas fallen ließ.Vorsichtig machte ich einen Schritt und stand zerstreut in der Küche.Mein Blick wurde immer wieder von ihm angezogen, wie er dort mit seinen nackten Füßen, in der Stoffhose und vor allem dem halb nackten Oberkörper stand, der mir fast den Atem raubte.Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als zu sehen, ob sein Oberkörper wirklich so haarlos war, wie es aussah und wohin der Streifen dunklen Haares an seinem Hosenbund verschwand.Bei diesen Gedanken lief ich knallrot an und senkte schnell den Blick.„Du wolltest dir ein Glas Wasser holen?", fragte er und griff gleichzeitig an mir vorbei in den Schrank und holte ein Glas heraus. Dabei griff er so nah an mir vorbei, dass ich mir unwillkürlich wünschte, er würde mich berühren.Ich machte einen Schritt rückwärts, um ihm auszuweichen, und trat zielsicher in eine, übersehene, Scherbe. Als ich schmerzerfüllt auf dem anderen Bein stand und mich an der Arbeitsplatte festhielt, unterdrückte ich mit aller Kraft einen Schrei und spürte Tränen in meine Augen schießen.Mein Wunsch erfüllte sich, als er meinen Arm griff und ihn sich um die Schulter legte. Er stütze mich, um mich zu einem Stuhl zu führen.„Du zitterst", stellte er fest. „Ist alles in Ordnung?", er sah mich besorgt an und ich bemühte mich das Zittern zu unterdrücken, doch das machte es nur schlimmer. „Tut es so weh?"Doch den Schmerz in meinem Fuß bemerkte ich kaum. Es war dieses Gefühlschaos, das mich zum Zittern brachte. Erst die Angst und dann seine Berührungen.Mein Herz klopfte so schnell, dass ich mich fragte, wie lange es das noch aushielt.Er sieht dich nur als Schwester.Er sieht eine Schwester in dir.Ich sagte mir das immer wieder im Kopf vor wie ein Mantra.Ich schüttelte schnell den Kopf und zog den Fuß zu mir hoch, um ihn zu begutachten. Die Scherbe war nicht allzu groß, steckte aber tief in meiner Ferse. Ich kniff die Augen zusammen und zog einmal beherzt daran.Ich öffnete die Augen und sah im Augenwinkel, wie alle Farbe aus Ilans braungebranntem Gesicht wich. Er hatte noch vor mir gestanden, doch schien er jetzt leicht zu schwanken.Auf seiner Stirn standen Schweißperlen und er fokussierte mit geweiteten Augen meinen Fuß.Ich folgte seinem Blick,sah etwas Blut aus der Wunde perlen und runzelte die Stirn.Ich griff beherzt nach seinem muskulösen Unterarm und beförderte ihn, selbst noch sitzend, sanft auf den Sessel, der direkt neben meinem Stuhl stand, wo die Küche direkt in den Wohnraum überging.„Mach die Augen zu.", sagte ich. Er tat es, ohne Widerstand, und schien zu schnell zu atmen.Ich hatte das schon erlebt. Locke hatte panische Angst vor Blut und fiel, wenn sie es sah, regelmäßig in Ohnmacht. Ihr half dann Ablenkung.Ich ging schnell verschiedene Themen durch und begann dann das erste zu erzählen, was mir einfiel:„Vor einigen Tagen, nach den kältesten Tagen ... Noch wichtiger nach den kältesten Nächten, haben wir im UBH die Tomaten rausgesetzt. Viele Pflanzen hatten wir schon ein paar Wochen vorher in die Gewächshäuser gesetzt."Ich erzählte ihm von den verschiedenen Tomatensorten und den Gemüsebeeten. Währenddessen hatte ich mit einem Küchentuch, das ich von der Arbeitsplatte geangelt hatte, das Blut von meinem Fuß abgetupft und es war schnell geronnen. Ich hatte Glück gehabt und meine Hornhaut hatte Schlimmeres verhindert.Ich wollte grade von den Kräutern zu berichten, als ich bemerkte, dass Ilan gleichmäßig atmend mit zurückgesunkenem Kopf im Sessel saß.Ich verstummte und betrachtete seine entspannten Züge.Er öffnete die Augen und lächelte mich an.Dankbar? Unsicher? Ich wusste es nicht.Sein Blick blieb an meinem dicken roten Zopf hängen und sofort fuhr meine Hand zu meinem Zopf.Ich konnte nicht anders, als zurück zulächeln und da fing er an zu reden. Er lehnte dabei den Kopf zurück an die Sessellehne und sah mich nicht an. Seine tiefe Stimme hatte etwas Beruhigendes an sich und ich entspannte mich und vergaß mein Zittern. Ich vergaß auch, dass mir kalt war und hörte nur zu.„Ich bin fast zehn Jahre lang Einzelkind gewesen, als mir meine Eltern erzählten, dass meine Mutter wieder schwanger war. Ich war zuerst eifersüchtig. Letztendlich habe ich mich dann aber gefreut. Meine Mutter hat immer gesagt, sie sei sicher, dass das Kind ein Mädchen werden würde und, dass ich es dann beschützen müsse." Er atmete tief durch. Gleichzeitig hielt ich den Atem an. Ich wollte ihn nicht unterbrechen. Ihn durch nichts davon abhalten weiter zu reden.„Als dann ...", er unterbrach sich selbst und setzte noch einmal neu an.„Die Geburt war sehr schwierig und wir wohnten etwas außerhalb. Eine Hebamme war da, doch sie kam spät. Ich durfte nicht in das Zimmer, aber ich habe sie schreien gehört. Meine Mutter. Irgendwann hat sie mich zu sich gerufen ... Sie war ganz schwach und hat mir tausend Sachen gesagt. Dass sie mich liebt und dass ich auf meine Schwester aufpassen müsse und ich es versprechen sollte. Ich wusste es damals nicht, aber sie hat sich von mir verabschiedet. Sie hatte schon beschlossen, dass sie Blacks Leben retten würden und dabei ist unsere Mutter gestorben. Mein Vater hat es mir später erklärt. Die Hebamme hatte meine Eltern vor die Wahl gestellt. Das Leben des Kindes oder das meiner Mutter ... Ich weiß nicht genau, wie es passiert ist, aber in dem Durcheinander ging die Tür auf und die Hebamme kam mit einem Bündel heraus, das keinen Ton von sich gab. Sie tat irgendwas damit, bis es schrie und mein Vater saß in der Ecke und war leichenblass. Keiner kümmerte sich um mich. Also lief ich ins Schlafzimmer und sah meine Mutter dort liegen ..." Er hatte einen Arm mittlerweile über sein Gesicht gelegt und verzog, während er erzählte, wie unter Schmerzen das Gesicht.„Alles war voller Blut. Ich erinnere mich nur daran, dass alles rot war. Alles. Ich habe nicht gewusst, dass in einem Menschen so viel Blut ist. Sie hat dort gelegen und sich nicht bewegt. Sie hat nicht mehr ausgesehen, wie sonst. Sie sah aus wie eine Puppe. Mit aufgeschnittenem Bauch und ... alles voller Blut ... So viel Blut."Während seiner Beschreibung hatte sich ein seltsames dumpfes Gefühl in meinem Magen ausgebreitet. Ein Schmerz, den ich fühlte, weil er litt. Weil ich versuchte nachzuvollziehen, wie er sich damals gefühlt hatte. Wie ein kleiner Junge vor einem blutigen Bett mit seiner toten Mutter stand.Ich fühlte einen Schmerz, doch der war nichts gegen das, was er damals gefühlt haben musste.Ich konnte nicht anders, als ihn anzusehen.Das erklärte einige Dinge. Es erklärte, warum ein starker, großer Mann bei ein paar Tropfen Blut leichenblass wurde. Und vielleicht erklärte es auch ein, warum Black so seltsam auf meine Frage nach ihrer Familie reagiert hatte.Es erklärte das feste Band zwischen den Geschwistern.Ich hatte das Gefühl, dass meine Gedanken rasten und die Zeit gleichzeitig sehr langsam verstrich.Vorsichtig, wie um ihn nicht zu erschrecken, bewegte ich meine Hand zu seiner, die die Sessellehne verkrampft umklammerte.Sanft strich ich mit den Fingern über seinen Handrücken.Ich fragte mich gerade, ob ich sie wieder wegziehen sollte, als er seine Hand drehte und meine ergriff. Er hielt meine Hand sanft und gleichzeitig fest, so als hätte er Angst, dass ich ihn loslassen könnte.„Wo ist euer Vater?", fragte ich, nach einiger Zeit, leise.Er sah mir in die Augen und strich gleichzeitig gedankenverloren mit dem Daumen über meinen Handrücken, was warme Schauer durch meinen frierenden Körper schickte.„Er starb etwa sieben Jahre später. Hat dir Black nicht von ihm erzählt?", fragte er überrascht und ich schüttelte den Kopf.„Sie hat ihn sehr geliebt, vielleicht hat sie deswegen nichts erzählt. Als er starb, ging für sie die Welt unter. Sie musste ins UBH, als Mutter starb. Aber Vater und ich besuchten sie und holten sie zu uns, so oft es ging."Ich lächelte unbestimmt und unterdrückte ein Zittern.Er bemerkte es.„Du frierst", stellte er fes und sah sich nach einer Decke um. Er fand keine, ließ meine Hand los und knöpfte sein Hemd auf.Mit offenem Mund sah ich ihm zu.„Nein. Ich ...", sagte ich, doch er hielt mir sein Hemd schon hin. „Dann frierst du doch."Er schüttelte den Kopf und ich musste mich sehr konzentrieren in seine Augen zu sehen.„Ich friere nicht so schnell", behauptete er ruhig. Mein Blick blieb an seiner nackten Brust hängen, die sich bei jedem Atemzug hob und senkte.Da er keinen Widerspruch gelten ließ, schlüpfte ich also in sein warmes Hemd und genoss das Gefühl auf meiner Haut. Die überlangen Ärmel schob ich bis zu meinen Ellbogen hoch.„Sie hat nur seine guten Seiten erlebt. Von unserem Vater. An den Wochenenden bemühte er sich. In der Woche hat er meistens einfach nur rumgesessen und vor sich hingestiert ... Ich habe früh angefangen, mich um alles zu kümmern. Er hat mir keine Wahl gelassen."Während er erzählte, griff er wieder meine Hand und seine zweite Hand strich immer wieder unendlich sanft über meinen Arm. Er schien das gar nicht zu bemerken.Mir sandte er damit Schauer über Schauer durch den Körper.„Wie alt warst du, als deine Mutter starb? Und dein Vater?", fragte ich den Mann, der so schnell erwachsen werden musste.Er schwieg. Das Schweigen hielt so lang an, dass ich glaubte etwas Falsches gesagt zu haben und ich wollte gerade dazu ansetzen, ihm zu sagen, er müsse nicht antworten, als er weitersprach.„Meine Mutter ist gestorben, als ich zehn war. Mein Vater dann als ich siebzehn war. Und da war ich plötzlich für ein siebenjähriges Mädchen verantwortlich. Ich habe mein ganzes Leben auf sie ausgerichtet. Damit sie alles hat, was sie braucht."Eine Zeitlang ließ ich seine Worte sacken und wir saßen gemeinsam schweigend dort. Unsere verschlungenen Hände lagen mittlerweile auf seinem Oberschenkel und ich war mit meinem Stuhl nah an seinen Sessel herangerückt.„Du bist ein guter Bruder", stellte ich fest und wieder sah er mich mit seinen faszinierenden Augen an und ich konnte nicht mehr wegsehen.Von seiner Hand ausgehend war mein ganzer Körper warm geworden. Sein Hemd hatte dabei vermutlich auch geholfen.Ab und zu strich Ilan mit dem Daumen sanft über meine Hand oder die Finger seiner freien Hand strichen wieder über die Länge meines Arms und diese wohligen Schauer durchliefen mich. So saßen wir dort. Wir redeten über alles und nichts.Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ich erwachte mit schmerzendem Nacken und von einem Gefühl des Fallens.Tatsächlich wäre ich im Schlaf auch fast von meinem Stuhl gefallen.Ich war über die Sessellehne mit Ilans Arm gelehnt, an seiner nackten Brust eingeschlafen und war nun aufgewacht, als mein Kopf beinahe in seinen Schoß gerutscht wäre.Meine Brust berührte seinen Arm und mir wurde heiß bei dem Gedanken, dass uns nur eine Stoffschicht trennte.Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Mein Kopf war mit Sicherheit tomatenrot und ich begann mich ganz langsam von ihm loszumachen.Ich bewegte mich, so langsam ich konnte, in der Hoffnung, wie bei einer Fliege, die man erschlagen will, ihn mit meinen Bewegungen nicht zu wecken.Es war ein mühseliges Unterfangen. Mein Zopf war zwischen seinem Bein und der Sessellehne eingeklemmt. Seine eine Hand lag auf meinem Schulterblatt und die andere hielt sanft meine linke Hand.Irgendwann gab ich es auf und mit einer sanften, aber bestimmten Bewegung, befreite ich mich. Bewegungslos hielt ich die Luft an und wartete, ob er aufgewacht war.Doch ich hatte Glück. Er schien einen tiefen Schlaf zu haben.So schlich ich auf Zehenspitzen, so leise ich konnte, zurück zu meiner Matratze in Blacks Zimmer. Als ich mich unter meiner Decke eingekuschelt hatte, sah ich zu Black hinüber und glaubte, dass sie ihre offenen Augen schnell schloss. Doch als ich atemlos einen weiteren Moment zu ihr sah, schien sie tief zu schlafen und ich glaubte mich getäuscht zu haben.Einige Minuten später war ich, lächelnd, eingeschlafen.So behandelte niemand seine Schwester. Ich hatte, was das anging zwar keine Erfahrungen, aber da war ich sicher.Am nächsten Morgen wachte ich erfrischt auf. Obwohl ich zu wenig und den Großteil der Nacht ungemütlich geschlafen hatte, ging es mir erstaunlich gut. Mein Nacken war etwas verspannt, doch sonst fühlte ich mich vor allem gut. Ich besah meinen Fuß, doch die Wunde war tatsächlich nur oberflächlich und schmerzte nur, wenn ich zu fest auf sie drückte. Beim Gehen bemerkte ich sie kaum.Black war schon aufgestanden und so zog ich mich in ihrem Zimmer schnell um.Erst als ich Ilans Hemd auszog, realisierte ich, dass ich es noch angehabt hatte. Ich erstarrte. Black hatte es mit Sicherheit gesehen!Aber wer weiß, vielleicht hatte sie es unter der Decke nicht gesehen. So beruhigte ich mich selbst und ging ins Bad. Ilans Hemd faltete ich und versteckte es in meinem Korb unter einem Wechselkleid. Dann half ich Black bei den Frühstücksvorbereitungen. Ilan saß natürlich nicht mehr auf dem Sessel. Dorthin war mein erster Blick geflogen, als ich aus Blacks Zimmer gekommen war.„Na, gut geschlafen?", fragte sie und sah mich prüfend an.Ich nickte unverbindlich. Hatte sie mich doch zurückkommen sehen? Hatte sie das Hemd bemerkt? Was hatte sie mitbekommen? Ich versuchte, mich selbst zu beruhigen. Selbst wenn sie mich gesehen hatte, als ich zurückkam. Ich hatte mir ja nur ein Glas Wasser geholt – eigentlich. Ich spürte, wie ich wieder rot wurde, und versuchte durch tiefes Atmen die sich ausbreitende Hitze zu verhindern.Ich vermutete, dass es mir nicht gelang, denn sie sah mich kritisch an.„Morgen", brummte Ilan, gewohnt rau, aus Badezimmerrichtung.Die Hitze, die sich von meinem Magen ausgehend ausbreitete, hatte nichts mit meiner vorherigen Verlegenheit gegenüber Black zu tun, sondern mit einer ganz anderen Art von Verlegenheit. Eine, die mich angenehm und wohlig wärmte.Ich drehte mich bewusst langsam in seine Richtung. Ilan sah mich nicht an. Sein Blick sah durch mich hindurch und zeigte mit keinem Wimpernzucken, was wir in der Nacht miteinander getan hatten.Die Wärme wurde von einem scharfen Stich ins Herz abgekühlt.Was hatte ich erwartet? Schließlich hatten wir uns nur unterhalten und waren dann eingeschlafen.Ich hatte zuviel in die Situation gedeutet.Ich hatte ihm einfach nur geholfen, als er eine Panikattacke wegen des Blutes gehabt hatte und er hatte mir geholfen, als ich das Glas heruntergeworfen hatte. ... Wie eine Schwester.Ich versuchte, meine wild umherspringenden Gefühle zu unterdrücken, und setzte mich mit den Geschwistern an den Frühstückstisch.Der erwartete Regen war ausgeblieben. Es hatte am vorherigen Tag nur genieselt und es war nur schwül.Wir beschlossen, den Tag zu nutzen und im Garten zu arbeiten.Ilan hatte Samen besorgt und so säte ich aus, was noch möglich war. Möhren, Zwiebeln, Salat, Erbsen und Bohnen.Er bearbeitete weiterhin die Wurzeln des toten Baumes, um sie aus der Erde zu bekommen. Mein Blick wurde immer wieder von ihm angezogen, wie er mit angespannten Muskeln das Holz bearbeitete und scheinbar mühelos, die abgehackten, Holzstücke auf einen Haufen räumte.Ich spürte immer wieder Blacks Blick auf mir und konzentrierte mich, so gut ich es konnte, auf meine Arbeit.Sie saß mit einer Stickarbeit auf der alten Bank und beobachtete uns.Der Tag ging schneller vorbei, als wir gucken konnten und nach unserem vorzüglichen Kuchen, so nannte es Ilan etwas ironisch, machten wir uns bald schon auf den Weg.Black arrangierte es so, dass wir aus der Tür raus waren, sodass ich Ilan nur von Weitem zuwinken konnte. Ich wusste nicht, ob sie das mit Absicht gemacht hatte, doch ich hatte ein ungutes Gefühl.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt