Mein Wecker riss mich aus einem unruhigen Schlaf und ich war fast froh, obwohl ich so unsanft geweckt wurde.Ich kam in dem Moment vor dem Bürogebäude an, als Unit aus der entgegengesetzten Richtung auf mich zukam.Er lächelte, als er mich sah. Mir fiel auf, dass er dabei einen Mundwinkel höher zog als den anderen.Irgendwie machte das sein durchschnittliches, eher strenges, Gesicht sofort attraktiver. Unwillkürlich lächelte ich zurück.Er schloss die Eingangstür auf und ließ mich zuerst eintreten.Diese Geste hatte ich in der Realität früher nie erlebt. Ich kannte sie nur aus Romanen und alten Filmen. Und natürlich den vergangenen Malen, an denen er mir die Tür aufgehalten hatte.Prompt spürte ich die Röte in mein Gesicht steigen.„Hast du gut geschlafen?", fragte er nach einer kurzen Begrüßung.Ich nickte.„Und du?", fragte ich unsicher zurück, während wir in den Aufzug stiegen.Er nickte ebenfalls.Als wir über den langen Flur gingen, lief er unangenehm nah neben mir.Unauffällig vergrößerte ich den Abstand.Ich fragte mich etwas unbehaglich, ob ich heute besonders empfindlich war.Obwohl ich mir nach dem Aufstehen vorgenommen hatte heute nicht an Black und Ilan zu denken, wanderten meine Gedanken zu ihnen.Sich vorzunehmen, an etwas nicht zu denken, war vermutlich von vorneherein zum Scheitern verurteilt.Heute war Samstag. Ich hatte mich freiwillig gemeldet den Samstagsdienst zu übernehmen, der sehr unbeliebt unter den Kollegen war.Ob Black schon bei Ilan angekommen war?Oder war sie noch nicht losgegangen? Vielleicht saß sie noch beim Frühstück?Oder Ilan hatte sie schon zur Begrüßung umarmt und ins Haus gebeten und ...Stop! Ab jetzt würden diese Gedanken aufhören.Doch was machte ich mir vor. Es würde ein sehr langer Tag werden!Der Wecker schreckte mich aus dem Schlaf. Ich fühlte mich zerschlagen und so müde, wie ich mich in meinem Leben selten gefühlt hatte.Im Halbschlaf stolperte ich von meinem Bettenlager aus dem Flur ins Bad und stellte mich unter die Dusche.Es war eine Wohltat das warme Wasser über meinen Körper laufen zu spüren.Ich wurde dadurch zwar nicht wacher, aber zumindest entspannte ich mich etwas.Ich hatte die Dusche und das jederzeit verfügbare heiße Wasser lieben gelernt.Erst als ich nass aus der Dusche stieg, fiel mir ein, dass ich meine Haare nicht hochgesteckt hatte und diese jetzt natürlich nass waren.Da ich im UBH nur geduscht hatte, wenn ich mir auch die Haare wusch, dachte ich darüber überhaupt nicht nach.Jetzt war es schon geschehen. Da ich aber so knapp, wie nur irgend möglich aufgestanden war, hatte ich keine Zeit mir die taillenlangen Haare trocken zu föhnen.Ich zog also hastig das herausgelegte, weiße Kleid an. Heute würde es zum Glück wieder sehr warm werden. Da ich mich beeilte, steckte am Ende einer meiner Arme mit im Ausschnitt des Kleides und es kostete mich mehr Zeit, das zu korrigieren, als wenn ich mir etwas mehr Zeit gelassen hätte. Typisch.Seufzend föhnte ich meinen Kopf zumindest halbwegs trocken.Dann flocht ich meine Haare zu einem dicken Zopf und mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass ich noch nicht mal Zeit hatte mir diesen festzustecken.Also würde ich so gehen müssen. Ich stürzte in die Küche, um mir zumindest ein Stück trockenes Brot zu holen.Bis zum Mittag würde ich sonst nichts bekommen.Fast sehnsüchtig dachte ich an den Haferbrei mit Beeren, den ich im UBH gegessen hätte.Ich lief zum Aufzug und fuhr ins Erdgeschoss zum Ausgang.Auf der Straße rannte ich fast, doch ich hielt mich zurück, damit ich nicht zu gehetzt wirkte.Der Weg zur Arbeit war zwar nicht weit, aber ich stand immer so spät auf, dass ich letzten Endes doch sehr knapp ankam.Als ich durch die Tür hastete, fiel mir ein, dass mein Brot auf dem Schränkchen im Flur lag. Dort hatte ich es abgelegt, als ich meine Stiefel angezogen hatte.Ich hielt mich davon ab, wie ein kleines Kind vor Wut auf den Boden zu stampfen.Stattdessen schnaufte ich genervt und verdrehte die Augen.Meine Mitfahrer im Aufzug sahen mich irritiert an. Ich lief rot an und versuchte möglichst neutral zu lächeln.Immerhin war keiner meiner direkten Kollegen im Aufzug gewesen.Dann hätten sie wieder etwas Neues gehabt, um mich aufzuziehen.In den letzten Wochen hatte sich eine vorsichtige Freundschaft mit einigen von ihnen angebahnt.Vor allem Chip, Floppy und Mikro hatten ihre Scheu überwunden und wir hatten seit dem ersten Tag immer miteinander gegessen und einen Weg gefunden miteinander auszukommen.Das funktionierte vor allem darüber, dass sie sich über meine Ungeschicklichkeit amüsierten. Das war mir zwar peinlich, aber recht, wenn wir so einen Weg fanden miteinander auszukommen.Ich versuchte meist Unit aus dem Weg zu gehen, weil mir seine Blicke und seine Nähe irgendwie unangenehm waren. Ich war nicht sicher, ob das daran lag, dass er mein Chef war oder an ihm als Person lag.Er suchte häufig meine Nähe, was an sich kein Problem gewesen wäre. Doch ich hatte das Gefühl, dass er möglicherweise mehr von mir wollte.Ich spürte seine Blicke häufig auf mir. Er musterte mich und meinen Körper und schien zuzuhören, wenn ich mit Jemandem über private Dinge sprach.Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Die Uhr war eine Errungenschaft in Braun, passend zu meinen Stiefeln. Da alle übrige Kleidung, die ich nun besaß weiß war, war das braun eine willkommene Abwechslung.Ich ging noch schneller über den Flur, als mir bewusst wurde, wie spät ich dran war.Ich bog gerade um die Ecke, als ich mit Jemandem zusammenstieß.Ich hatte so viel Schwung, dass ich zurück stolperte und mein Gleichgewicht verloren hätte, wenn mich zwei, recht kräftige, Arme nicht festgehalten hätten.„Entschuldig...", stammelte ich und sah hoch und in die Bernsteinaugen meines Chefs, der mich freundlich anlächelte.Mit den Armen schlackernd versuchte ich, mein Gleichgewicht wieder zu finden und wollte einen Schritt rückwärts gehen, doch Unit ließ nicht sofort los.Erst nach einigen unangenehmen Momenten lockerte er seinen Griff und ich brachte etwas Abstand zwischen uns.„Guten Morgen. Du bist aber schnell unterwegs."„Ja. Ich ...", ich war noch ziemlich außer Atem von meinem schnellen Gang und dem überraschenden Zusammenstoß.„Das passt mir ohnehin gut. Ich wollte dich etwas fragen." Er räusperte sich und wirkte plötzlich nervös. Er suchte Blickkontakt. Ich hielt diesen nur so lange, dass es nicht unhöflich wirkte. „Nun ... Ich habe mich gefragt, ob es ..." Er räusperte sich noch einmal und schob seine Brille die Nase hoch und strich sich durchs Haar, was mich schmerzlich an Ilan erinnerte, der diese Geste so häufig gemacht hatte und bei der ich jedes Mal selbst durch sein Haar hatte fahren wollen.„Also ... Nun ja. Ich sage es am besten einfach", fuhr er fort und unterbrach meine Gedanken. Ich spürte, wie ich rot anlief. Ich befürchtete das Schlimmste. „Hättest du vielleicht Lust mit mir Essen zu gehen?", brachte er dann schnell heraus und bestätigte meine Befürchtungen. Ich spürte die Hitze in meinem Gesicht und die Feuchtigkeit, die aus meinem Zopf mein Kleid durchtränkte und mir plötzlich eine Gänsehaut verursachte.Obwohl ich damit gerechnet hatte, hatte ich mir nicht überlegt, wie ich auf die Frage reagieren würde. Ich hatte auch nie wirklich damit gerechnet. Eigentlich hatte ich doch immer gedacht, dass ich mir sein Interesse nur einbilden würde und eitel sei.„Ähmm ... ich ...", stammelte ich und versuchte, meine rasenden Gedanken einzufangen und in einer sinnvollen Erwiderung zu sammeln.Er sah mich erwartungsvoll und irgendwie siegessicher an.Ich straffte mich.„Ich fühle mich wirklich geschmeichelt, aber ich muss leider ablehnen. Du weißt ja, dass ich erst gerade hier angefangen habe. Ich möchte mich nicht ablenken lassen und alles so gut machen, wie es geht."Er schien in sich zusammenzusacken, doch nur für etwa eine Sekunde, dann hatte er sich wieder im Griff. Er räusperte sich.„Das kann ich natürlich gut verstehen. Eine sehr löbliche Einstellung. Dann will ich dich auch nicht weiter aufhalten." Er blickte auf seine goldene Armbanduhr. „Du bist auch so schon fünf Minuten zu spät."Ich unterdrückte ein aufgebrachtes Schnauben, warf meinen Zopf über die Schulter und ging in einem gemessenen Tempo ins Büro.Alle blickten auf, als ich zu spät hereinplatzte, ich murmelte ein angesäuertes „Guten Morgen" und setzte mich auf meinen Platz neben Chip, der mich, wie alle anderen mit riesigen Augen anstarrte.„Was?!", fuhr ich ihn unfreundlich an und folgte dann seinem stierenden Blick auf meine Brust und spürte augenblicklich die Hitze in meinen gesamten Körper steigen. Mein nasser Zopf hatte den weißen Stoff auf der rechten Seite, auf der er gelegen hatte durchnässt und nun war der Stoff ziemlich durchsichtig. Ich sog scharf die Luft ein und sah zu Chip, der sich in dem Moment gefangen hatte und ritterlich auf meine Stirn starrte. Umständlich griff er hinter sich, ohne den Blick von meiner Stirn zu lösen und reichte mir sein Sakko.Dankbar schlüpfte ich hinein. Es war viel zu groß, doch es überdeckte den nassen Stoff.„Danke", flüsterte ich beschämt. Seine Augen flogen zu meiner Brust und dann zu meinen Augen und er lächelte mich freundlich an. „Ich gehe eben zur Toilette. Vielleicht kann ich den Stoff trocknen."Ich wollte schon aufstehen, als Unit herein schritt und eine Versammlung anberaumte, die sofort begann.Mein Plan war also dahin und mein Kleid würde nass und durchsichtig bleiben und ich würde in der Wärme von Chips Sakko dahinschmelzen.Ich hoffte, dass ich nicht einschlafen würde.Nach der Arbeit schleppte ich mich nach Hause. Ich schaffte es noch so eben, mir ein Brot zu machen und es auf dem Sofa zu essen, bevor ich schon in mein Bettenlager sank.Wie auch an den letzten Abenden fanden meine Gedanken mühelos immer wieder einen Weg zu Ilan.An den Tag, an dem er mir den Sonnenhut geschenkt hatte und wir gemeinsam im Gartenschuppen gestanden hatten.Was wohl passiert wäre, wenn Black uns nicht unterbrochen hätte?Wie er im Sessel gesessen hatte. So gut aussehend und stark. Und so blass, wegen meines Blutes.Seine Stimme, als er mir erzählt hatte, wie er den Tod seiner Mutter erlebt hatte.Egal wie oft ich mich bemühte, an etwas anderes zu denken, meine Gedanken flogen schnell zurück.Letztendlich schlief ich mit angenehmen Gedanken ein und träumte davon mit Ilan im Garten zu arbeiten. Er lächelte mich immer wieder an und ich spürte dieses Gefühl im Bauch, das in Romanen immer als Schmetterlinge im Bauch beschrieben wurde. Morgens wachte ich von dem Wecker auf und war verwirrt. Doch als mir klar wurde, dass Samstag war und ich frei hatte, sank ich zurück. In Gedanken plante ich meinen Besuch im UBH. Endlich würde ich dorthin gehen und nach Black fragen. Mit diesen Gedanken döste ich noch einmal ein.Ich schlug meine Augen auf und war vollkommen verwirrt und desorientiert. Es dauerte einige panische Sekunden, bis ich erkannte, wo ich war.In der riesigen weißen Wohnung. Meiner Wohnung.Nachdem ich mich gewaschen und eines der schönen weißen Kleider angezogen hatte, suchte ich in der Küche nach etwas essbarem.Ich saß in diesem Moment mit einem Brot und etwas Schinken an dem zu großen weißen Tisch, als ein Klingeln durch die Wohnung hallte.Ich zuckte zusammen und sah mich irritiert um.Ich stand auf und versuchte herauszufinden, wo das Geräusch hergekommen war.Nach kurzer Zeit ertönte das Geräusch noch einmal. Es kam aus dem Flur.Ich öffnete die Tür, doch dort stand Niemand.Das Klingeln ertönte noch einmal und ich entdeckte einen Hörer neben der Tür, wie von einem der altertümlichen Telefone, die zumindest im UBH nie funktionierten.Ich hob den Hörer ab und hielt ihn an mein Ohr. Ich konnte nichts hören.„Hallo?", sagte ich unsicher.„Ja. Hallo!", antwortete eine Stimme und ich ließ mit einem erschrockenen Quietschen beinahe den Hörer fallen.Ich presste den Hörer wieder an mein Ohr und lauschte mit rasendem Herzen nach einem Geräusch.Ich wollte gerade fragen, wer denn dort sei, als sie weiterredete.„Hier ist Belle", kam es von der anderen Seite und ich runzelte die Stirn. Wer war Belle?Hatte ich in letzter Zeit eine Belle kennengelernt?„Deine Schwester."
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Die Einsamkeit der Namenlosen
FantasyBei der Geburt eines Kindes gibt die Mutter diesem einen Namen. Im System hat die Mutter keinen Einfluss auf den Namen, doch sie weissagt damit das zukünftige Leben des Kindes. Kinder, deren Mütter bei der Geburt sterben, bleiben namenlos und wachse...