9. Wer sich um Tomaten kümmert, hört Türen flüstern

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Nach der Gartenarbeit ging ich durch die Räume, um die Tomatensetzlinge zu kontrollieren und ein letztes Mal zu gießen, bevor wir sie in den nächsten Tagen aussetzen würden.
In einem der Räume hörte ich leise Stimmen von nebenan. Ich erkannte Henrietta. Und war die andere Stimme, die von Quasselstrippe?
Ich blieb stehen und rückte sogar näher an die Zwischentür, um besser zu hören, was geredet wurde. Ich brauchte einen Moment, bis ich etwas verstehen konnte.
„... wirklich schwierig", sagte eine helle Stimme gerade.
„Ja, das kennen wir alle", sagte Henrietta mit ihrer bedächtigen Art und ich konnte mir gut vorstellen, wie sie ihr Gegenüber abschätzend musterte. „Du musst wissen, dass sie es nicht leicht hatte."
„Aber wir alle hatten es nicht leicht. Trotzdem sind wir nicht alle so unfreundlich und abweisend. Ich gebe mir wirklich Mühe, weil ich dachte, dass sie irgendwann nachgibt und sich öffnet, aber ..."
Das war eindeutig Quasselstrippe. Möglicherweise sollte ich ihren Namen doch noch einmal überdenken. Der Name war etwas fies.
Sprach sie da etwa von mir? Wieso redete sie mit Henrietta über mich?
Irgendwas wurde gemurmelt, was ich nicht verstand und ich rückte noch näher an die Tür und gab meine Tarnung auf, bei der ich die Blätter einer Tomate gestreichelt hatte.
Ich drückte sogar mein Ohr an das Türloch. Ich kam mir ziemlich bescheuert vor, aber ich hörte besser. Jetzt durfte nur keiner reinkommen und mich so erwischen.
„... eine Freundin. Eine beste Freundin. K-812.", ich riss mein Ohr von der Tür und ging einen Schritt rückwärts. Warum redeten die Beiden über sie? Der alte Schmerz brach wieder auf. Doch er war dumpf geworden über die Jahre. Ich presste die Hand an meine Kehle und ging wieder zur Tür, um weiter zuzuhören.
Henrietta redete immer noch: „... Amt. Die anderen Mädchen haben sie auf der Straße gefunden, als sie auf dem Rückweg waren. G-769 stand dort wie erstarrt und hat nicht auf die anderen Mädchen reagiert. Sie hat nur vor sich hingestarrt. Die Mädchen waren ganz erschrocken, doch sie haben sie zurückgebracht."
Spätestens jetzt konnte ich sicher sein, dass es um mich ging.
„Sie war apathisch und hat für die einfachsten Dinge Hilfe gebraucht. Wir haben sie erstmal in die Krankenstation gesteckt. Wir wussten nicht, was passiert war. Im Schlaf hat sie dann mehrfach nach K-812 gerufen und wir haben uns zusammengereimt, dass sie sie gesehen hatte."
Die Wahrheit war, dass ich nicht nach K-812 gerufen hatte, sondern nach Grin. So hatte ich sie schließlich immer für mich genannt.
Später war ich dafür bestraft worden. Und das, obwohl ich ihren Namen nur im Schlaf gerufen hatte. Das einzig Gute war, dass ich immer noch so neben mir gestanden hatte, dass ich die zwei Tage in dem Kellerraum zwar mit Panikattacken, aber verhältnismäßig gut hinter mich gebracht hatte.
„Selbst wir Betreuerinnen wussten von den Schwüren, die sich die Beiden gegeben hatten." Henriettas Stimme war etwas leiser, wahrscheinlich bewegte sie sich in dem Raum von mir weg. „Viele Mädchen hier tun das. Freundinnen für immer und so weiter ... Doch G-769 hatte das anscheinend ernster genommen, als es einige andere tun. Und vor allem ernster als K-812. Sie hat ihr das Herz gebrochen. G-769 hatte keine anderen Freundinnen hier. Es waren immer nur die Beiden. Als K-812 benannt wurde und sich die beiden ehemals besten Freundinnen auf der Straße trafen, dachte G-769 wohl, dass es anders sein würde als bei den anderen. Und dabei erzähle ich es ihnen immer wieder. Wer benannt wird, sollte danach keinen Kontakt mehr mit den Namenlosen haben. Das wird nicht gern gesehen. Natürlich hat sich K-812 daran gehalten und G-769 ignoriert."
„Und war sie schon immer so ... harsch?", fragte Quasselstrippe und in mir zog es sich zusammen, als sie mich so beschrieb. Aber natürlich hatte sie recht.
„Nein", seufzte Henrietta. „Sie war fröhlich und munter, plapperte gern und lächelte viel. Seitdem hat sie sich in sich zurückgezogen. Sie weist jeden Annäherungsversuch zurück. Sie ist schroff und abweisend. Sie lebt nur noch für sich. Wir dachten alle, dass es besser würde, sobald sie selbst bestimmt würde, aber ..."
Als hätte ich mich verbrannt, zuckte ich zurück. Jetzt reichte es. Ich musste nicht hören, was für ein hoffnungsloser Fall ich war und, dass ich die älteste Namenlose war und vermutlich mein ganzes Leben hier verbringen würde.
Ich verließ mit steifen schnellen Schritten den Raum und verkroch mich in mein Zimmer.

Die Einsamkeit der NamenlosenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt